Er gehört zu den Stammgästen europäischer Theaterfestivals: Toshiki Okada.

Foto: Kikuko Usuyama

Toshiki Okada ist nach Tokio gekommen, um einen Theaterpreis zu vergeben. Eben jenen, den er vor 14 Jahren selbst entgegennahm. Damals war der japanische Autor und Regisseur Anfang dreißig und hatte gerade einmal einige Stücke inszeniert. Eines behandelte die Wirkungen von Marihuana, ein anderes jene Generation, der er selbst entstammt: die Lost Generation, wie sie in Japan genannt wird.

Damit sind die Jahrgänge gemeint, die in den 1980ern aufwuchsen und in den 1990ern ins Arbeitsleben eintraten – also zu einer Zeit, als das japanische Wirtschaftswachstum plötzlich stagnierte und die Gesellschaft in ihren innersten Strukturen erschüttert wurde. "Bis heute haben wir in Japan mit den Auswirkungen der damals begonnenen Veränderungen zu kämpfen", sagt Okada und nimmt einen weiteren Schluck von seinem Cappuccino.

Der 45-Jährige sitzt in einem Kaffee unweit des Bahnhofs Ueno mitten in Tokio. Er ist bereits eine Stunde vor der vereinbarten Zeit gekommen, um in Ruhe an seinem neuen Stück zu arbeiten. Seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima lebt Okada mit seiner Frau und den Kindern in Kumamoto, einer 800.000 Einwohner zählenden Stadt auf der südlichsten von Japans großen Inseln. Die Haare sind verstrubbelt, auf der Nase sitzt eine schicke Hornbrille.

Von Festival zu Festival

Heute gehört Okada zu den bekanntesten Regisseuren Japans – zumindest aus westlicher Sicht. So etwas wie ein Stammtheater haben Okada und die von ihm geleitete Truppe Chelfitsch aber nicht. "Wir sind auf Einladungen von ausländischen Festivals angewiesen," sagt er. Um diese muss sich der japanische Theatermacher aber schon länger keine Sorgen mehr machen.

Mit Five Days in March kam seine Karriere so richtig in Fahrt. Im Jahr 2004 war das, für das selbstgeschriebene und inszenierte Stück bekam Okada den zu Anfang genannten Theaterpreis. Einladungen zu internationalen Festivals folgten. Das Kunstenfestival in Brüssel, damals vom jetzigen Festwochen-Intendanten Christophe Slagmuylder geleitet, machte den Anfang. "Ich habe das Stück als einer der Ersten in Tokio gesehen", erzählt Slagmuylder, "ohne Übersetzung, aber ich verstand jedes Wort."

Szenenbild aus "Five Days in March".
Foto: Kikuko Usuyama

Das hat viel mit der Körpersprache von Okadas Schauspielern zu tun. Sie ist gewissermaßen zu seinem Markenzeichen geworden. Anders als bei der psychologischen Durchdringung des Texts, die wir im traditionellen westlichen Theater gewöhnt sind, entkoppelt Okada die Sprache vom Körper. An fünf Tagen im März des Jahres 2003 beobachtet Okada ein Grüppchen von Jugendlichen. Sie erzählen sich Banalitäten aus ihrem Leben, reden über Freunde, Sex, Musik, und fast immer im Kreis.

Es ist die Zeit, in der die USA den Irak bombardieren, doch das spielt bei den jungen Leuten keine Rolle. Statt vor dem Fernseher verbunkern sich zwei der Protagonisten in einem Love-Hotel – und vögeln fünf Tage durch. Erzählen sie davon, dann berichten ihre Körper von etwas anderem als ihre Münder. Völlig losgelöst entwickeln die Körper ein Eigenleben, die fließenden Bewegungen sind wie ein Tanz, dessen Choreografie man nicht durchschaut.

Ein westlicher Besucher fühlt sich vielleicht ans Noo-Theater erinnert, in dem die Körper auch einem strengen Reglement unterworfen sind. Nein, nein, wiegelt Okada ab: "Damit hat es nichts zu tun. Wenn Japaner etwas sagen, dann sagen sie nicht das, was sie sagen wollen. Es bleibt immer ein kleiner Rest offen. Diesen Rest übersetze ich in eine Bewegung, die ein Eigenleben bekommt."

In Wien zeigt man eine Re-Creation von "Five Days in March".
Foto: Kikuko Usuyama

Alltags-Slang trifft auf Bewegungsunschärfe. Dadurch werden Gefühle wie Isolation, Apathie oder Angst evoziert, die eine Kluft beschreiben, die den Einzelnen von seiner Umwelt, aber in erster Linie von sich selbst trennt. Matthias Lilienthal, der ehemalige Intendant des Berliner Avantgardetheaters Hau und jetzige Leiter der Münchner Kammerspiele, der neben Slagmuylder zweite große Förderer von Okada im deutschsprachigen Raum, schätzt den japanischen Theatermacher, weil dieser Entwicklungen beschreibe, die auch in Europa immer evidenter würden. In München inszenierte Okada in den vergangenen Spielzeiten gleich zwei Stücke, Noo Theater und No Sex. Letzteres wäre um ein Haar auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden.

Linearere Dramaturgie

Seine Theatersprache hat Okada in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten beibehalten. Die Dramaturgie ist zwar linearer geworden und die Probleme seiner Protagonisten sind nicht mehr jene von Jugendlichen, sondern von jungen Erwachsenen, die eine Familie gründen, noch immer interessiert sich Okada aber für die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die das Land nach Fukushima beuteln. Das ist im japanischen Theater keine Selbstverständlichkeit und erklärt zu einem gewissen Teil Okadas Erfolg im Ausland. Bei den Festwochen war Okada schon einige Male zu Gast, nie aber mit Five days in March, das bei den Salzburger Festspielen zu sehen war.

"Dieses Stück ist ein Meilenstein des japanischen Theaters", sagt Christophe Slagmuylder. Der Festwochen-Intendant hat eine Recreation des modernen Klassikers nach Wien geholt. Das bedeutet, dass der Text mehr oder weniger derselbe ist, die Schauspieler und die Bühne aber nicht. "Es ist das erste Mal nach längerer Zeit, dass ich wieder mit 20-Jährigen arbeite", sagt Okada. "Doch die heute 20-Jährigen sind anders, als wir damals waren: Sie stellen sich anders, besser dar." Wie, das wird man auf der Bühne des Museumsquartiers sehen. Schauen Sie auf die Bewegungen, achten Sie nicht auf die Worte. (Stephan Hilpold, 28.5.2019)