Einsamer Gipfel einer mutmaßlich kurzen Politikerkarriere: Innenminister Eckard Ratz gibt das vorläufige Endergebnis der EU-Wahl offiziell bekannt.

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Es waren beunruhigende Zeiten, als sich Max Weber über die ethische Qualifikation angehender Politiker besorgt zeigte. Vor genau hundert Jahren stellte der deutsche Meistersoziologe sich und seinem studentischen Publikum in München die Frage, was die Politik an "inneren Freuden" demjenigen zu bieten vermag, der sich ihr von ganzem Herzen "zuwendet". (Weber gab die Antwort in dem Vortrag "Politik als Beruf" übrigens gleich selbst: Machtgefühl!)

Man wird sich hüten, jenen Experten, die für die Dauer einer knappen Woche in der österreichischen Bundesregierung den Ministerrang eingenommen haben, jetzt die nämliche Frage zu stellen. Es könnte gut sein, dass zum Beispiel Innenminister Eckart Ratz mit der Verlesung des amtlichen EU-Wahlergebnisses bereits den ihm zugänglichen Quell "innerer Freude" voll und ganz ausgeschöpft hätte.

Doch wären es vielleicht sogar die Politiker selbst, die auf eine Preisgabe der Dinge verzichten wollten, die ihnen innere Freude bereiten. Rasch geriete ihr ohnehin schlecht beleumundeter Berufsstand in Gefahr, vollends für korrupt angesehen zu werden.

Erhärtung des Verdachts

Vorkommnisse wie die vor zwei Jahren in Ibiza gefilmten dienen der Erhärtung einer Verdachtslage. Diese hat es offenbar verdient, von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern besonders häufig und im Tone allgemeiner Gereiztheit geäußert zu werden. Die da oben "sind alle gleich", da sie der Tendenz nach bloß ihre ureigenen, partikularen Interessen verfolgen. Bloß lassen sich die einen ertappen, die anderen nicht.

Das Vertrauen in diejenigen, die Herrschaft ausüben, beruht auf einer Hoffnung, die sich für viele nicht von einem frommen Wunsch unterscheidet. Die Regierenden, so lautet das inständig geäußerte Begehren, haben es im besten Fall nicht nötig, sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern. Seit Platons Idee der Philosophen-Herrschaft gründet das Vertrauen der Staatsvölker in einer Instanz, die aufgrund von uneigennütziger Weisheit imstande sein soll, die Zustimmung der Regierten (oder "Beherrschten") vorwegzunehmen.

Häufig genug sind mündige Bürger gerade auch in unseren Breiten froh, wenn "politisches Gestalten" der Verwaltung eines Status quo, an den man sich gewöhnt hat, zum Verwechseln ähnlich sieht. Im Grunde wollen auch gute Demokraten mit den Einzelheiten von Politik nicht behelligt werden. Aus solchen Anwandlungen von Hasenherzigkeit resultiert der Vorzug, den die Ethik der Verantwortung gegenüber derjenigen der Gesinnung genießt.

Sachliche Verantwortung

Max Weber unterschied die "sachliche Verantwortung" strikt von aller Voreingenommenheit. Wer sich ethisch großtut und auf ein künftiges Ziel hinarbeitet, verkennt die Tragweite der Spannung, die zwischen einem politischen Zweck und den für seine Erreichung aufgebotenen Mitteln herrscht. Gesinnungsethiker gehen, glaubt man dem Klischee, unbedenklich über Leichen.

Aus einer solchen Verdachtslage heraus liebt man in Österreich von allen Reformern diejenigen am innigsten, die darauf abzielen, dass alles halbwegs so bleibt, wie es ist. Von der verflossenen türkis-blauen Regierung hörte man die Botschaft, dass sie "den Stillstand" ihrer Vorgängerregierungen angeblich "aufgelöst" hätte. Beliebt war sie vornehmlich deshalb, weil ihr angeblicher Reformeifer (noch) keine ungünstigen Auswirkungen auf die Masse der Wahlberechtigten gezeitigt hatte.

So scheint die heimische Politik von Herzen gerne dem Ideal des rasenden Stillstands verpflichtet. Die Staatslenker sollen Dienende sein. Indem sie sich zur Untätigkeit verpflichten, gefährden sie nicht den Ausgleich zwischen Interessen, die man hierzulande ohnedies lieber privat bewirtschaftet.

Inbild der Untätigkeit

Ein interimistischer Bundeskanzler kommt für die Dauer dreier Monate dem Inbild einer solchen Untätigkeit sehr nahe. Er genießt das unbedingte Vertrauen der Staatsbürger, gerade weil er nicht von ihnen gewählt werden muss und somit allem Zank von vornherein enthoben bleibt.

Ein Kabinett aus trockenen Experten, die bloß Urkunden abzeichnen: der Stoff, aus dem in Österreich die feuchten Politträume sind. Es würde verkörpern, was Hermann Broch mit Blick auf die letzten Regierungsjahre von Kaiser Franz Joseph anzumerken wusste: Dieser Greis, zum Symbol seiner selbst vertrocknet, zog sich vor dem Ansturm der Neuerungen "ins Unveränderliche zurück". (Ronald Pohl, 28.5.2019)