Diese Europawahl ist bereits vor der Bekanntgabe des totalen Absturzes der Konservativen zum weithin sichtbaren Symbol für das Versagen von Regierung und Parlament Großbritanniens geworden.

Schon die bloße Tatsache der Wahl war eine widersinnige Handlung, zumal das Land zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr Mitglied der Europäischen Union sein sollte. Die Verschiebung des britischen Austrittsdatums auf Ende Oktober war ein Eingeständnis der Unfähigkeit der politischen Elite, rechtzeitig einen halbwegs mehrheitsfähigen Kompromiss über den Austritt zu erreichen. Der überfällige, aber letzten Endes doch erzwungene Rücktritt der gescheiterten Premierministerin Theresa May markiert nicht den Abschluss, sondern die Eröffnung einer neuen Phase des Machtkampfes um die Spitze der mit einem beispiellosen Protestvotum abgestraften Regierungspartei.

Wenn auch die Hauptverantwortung für das unglückselige Referendum am 23. Juni 2016 ihr Vorgänger David Cameron mit seiner Mischung aus Führungsschwäche und Opportunismus trägt, wird May mit ihrer unsinnigen rhetorischen Leerformel "Brexit means Brexit", mit ihren drei Abstimmungsniederlagen im Unterhaus – einschließlich der schlimmsten parlamentarischen Abfuhr in der britischen Geschichte im Jänner – und den beschämenden Szenen im Unterhaus, wie sie in der eigenen Fraktion vorgeführt wurde, als die wohl jämmerlichste und international gescheiterte britische Spitzenpolitikerin in die Geschichte eingehen.

Interne Fraktionskämpfe

In einer Wendezeit, in der das Vereinigte Königreich eine der wichtigsten staatspolitischen Entscheidungen seit dem Zweiten Weltkrieg treffen muss, erweist sich die politische Elite durch interne Fraktionskämpfe auch in der Labour-Partei gelähmt, als faktisch handlungsunfähig. In seiner kürzlich erschienen großartigen Churchill-Biografie zitiert Andrew Roberts die zeitlos gültige Feststellung des großen Staatsmannes: "Politische Systeme kann man in gewissem Maße danach beurteilen, ob deren führende Vertreter fähig sind oder nicht, schwerwiegende Entscheidungen aus sachlichen Gründen gegen ihre eigenen Interessen und oft gegen jene ihrer besten Freunde zu treffen."

Mays Hinterlassenschaft ist eine gespaltene Parteienlandschaft in einem gespaltenen Parlament eines gespaltenen Landes. Ihre triumphierenden Rivalen fielen sich in den letzten drei Jahren wiederholt gegenseitig in den Rücken. Auch die oppositionelle Labour-Partei unter der Führung des linkssektiererischen Jeremy Corbyn hat sich bisher in der Europafrage zerfleischt. Unter den bis zur Drucklegung gemeldeten acht Kandidaten um die Nachfolge der glücklosen Premierministerin ist der ehemalige Außenminister Boris Johnson der klare Favorit. Seine Wahlkampflügen vor dem Referendum, seine völlig absurden Versprechen über die zu erwartenden "tollen Chancen" nach einem "No-Deal"-Austritt, sein Vergleich der EU mit Nazi-Deutschland, sein unbeherrschter Populismus erinnern Beobachter an "eine etwas kultiviertere Variante" von Donald Trump.

Die Wahrscheinlichkeit seines Sieges im Machtkampf in der konservativen Fraktion mit der Gefahr eines chaotischen Brexits erweckt also zu Recht europaweite Befürchtungen. (Paul Lendvai, 28.5.2019)