In der kasachischen Steppe kommen alle wichtigen Kommandos über Funk: "Schnallt euch an, in drei, zwei, eins hebt ihr ab." Wir, ein neunköpfiges Expeditionsteam aus dem Land von "Austromir"-Missionar Franz Viehböck, befinden uns quasi ums Eck des Weltraumbahnhofes Baikonur. Von hier aus haben schon andere Helden die Erde verlassen. Zum Beispiel die Hündin Laika und Kosmonaut Juri Gagarin, die jeweils ersten Lebewesen ihrer Gattung im All. Zwischen dem Kosmodrom von Baikonur und unserer Abschussrampe liegen gut 1.500 Kilometer. Doch gleich schweben auch wir wie Kosmonauten über der kasachischen Erde. Aus dem Autoradio dröhnt "Moskau" von Dschinghis Khan, als Fahrer Vadim die letzte Stufe seines Geländewagens zündet, einen akkuraten Buckel auf der staubigen Piste anvisiert – und abhebt. Nur eine Sekunde später landen wir wieder. Willkommen auf dem unbekannten Planeten Scharyn!

Im Südosten Kasachstans tauchen Canyons inflationär zwischen Marslandschaften auf.
Foto: Sascha Aumüller

Genaue Ortsangaben werden im größten Binnenland der Welt mit nur sieben Einwohnern pro Quadratmeter als Pedanterie empfunden. Aber als kleine Orientierungshilfe für alle nichtkasachischen Leser: Der Scharyn ist ein Canyon und liegt 200 Kilometer östlich von Almaty, Kasachstans größter Stadt, in unmittelbarer Nähe zu China und Kirgisistan. Er zählt mit 50 Kilometer Länge zu den größten der Erde, ist dabei nur einer von vielen im Südosten des Landes und wird gerne mit dem Grand Canyon in Arizona verglichen.

Das "Tal der Schlösser" im Scharyn-Canyon.
Foto: Sascha Aumüller

Wir schlendern durch das "Tal der Schlösser", das sind rötliche Felsbrocken, die wie Ritterburgen ohne Schießscharten und Zugbrücken aussehen. Darüber kreisen in inflationärer Anzahl Steppenadler, vergleichbar mit der Taubenplage auf dem venezianischen Markusplatz. Auf der azurblauen kasachischen Landesflagge ist sogar noch so ein Adler zu sehen. An diese Canyons schließt wiederum direkt die saftig grüne Steppe an, aus der ihrerseits das Tian-Shan-Gebirge mit bis zu 7.000 Meter hohen, meist angezuckerten Gipfeln ragt.

Uneinfangbare Weite

Wer jemals mit dem Gedanken gespielt hat, die Transsibirische Eisenbahn zu besteigen, nur um die Weite der Steppe zu begreifen, oder noch auf das Ticket für eine bemannte Marsmission spart, kann beide Pläne ad acta legen. In der Gegend um Almaty, auf einer Fläche etwas kleiner als Rumänien, hat man alles: unfassbare, mit der Kamera uneinfangbare Weite und nach kurzer Flugzeit in Vadims Geländewagen auch Marslandschaften.

Pferde gelten laut einem regionalen Sprichwort als die "Flügel der Kasachen".
Foto: Sascha Aumüller

Der Mittfünfziger hat sich mit anderen Haudegen wie einem ehemaligen sowjetischen Offizier der Roten Armee, begeisterten Jägern und Funkern zu den Outfitters, einer Mitfahrgelegenheit für Touristen, zusammengeschlossen. Im Konvoi brettern sie durch Gegenden, in die normalerweise nur tollkühne Reiter auf ihren Pferden – "die Flügel der Kasachen", wie ein lokales Sprichwort sagt – gelangen. Diese touristische Pionierarbeit ist auch dank des Spritpreises von 40 Euro-Cent pro Liter leistbar. Kasachstan lebt bis heute hauptsächlich von Öl- und Gasexport, Tourismus ist mit einem Anteil von nur 1,5 Prozent am BIP absolut nebensächlich.

Ein ehemaliger Offizier der Roten Armee, Jäger und Funker haben sich zum Geländewagenklub Outfitters zusammengeschlossen.
Foto: Sascha Aumüller

Das Funkgerät im Wagen von Vadim bleibt stumm. Es gibt eine asphaltierte Straße auf dem Weg nach Schonschy und daher keinen Grund für eine Warnung an die Passagiere. Dafür dudelt das Autoradio "Wind of Change" von den Scorpions durchs offene Fahrerfenster hinaus in uigurisches Gebiet. Rund 300.000 Uiguren, schamanisch geprägte Sunniten mit einer eigenen Sprache, leben als eine von 50 ethnischen Gruppen in Kasachstan, ihre Hauptstadt ist Schonschy.

Kasachisch diplomatisch

Dort fragen wir Tursun, einen durch den Verkauf von Kebab zu Wohlstand gelangten Uiguren, was er sich von den Präsidentschaftswahlen am 9. Juni erwartet. In Kasachstan sind diese ein nicht alltägliches Ereignis, Staatschef Nursultan Nasarbajew hat das Land bis März 2019 ganze 29 Jahre lang autoritär regiert. Tursun erteilt uns aber eine Lektion in Sachen kasachische Diplomatie und meint zum wahrscheinlichen Wahlsieg von Kasym-Schomart Tokajew: "Tokajew wird's schon richten, wie vor ihm Nasarbajew."

Auch seine eigene Situation und die der kasachischen Uiguren sind ihm nur diesen Satz wert: "Unter den Sowjets hatten wir es nicht schlecht, jetzt haben wir es gut." Jedenfalls besser als in China, ist man versucht zu ergänzen. Auf der anderen Seite der nahen Grenze sind laut Uno mehr als eine Millionen Uiguren in chinesischen Lagern eingesperrt. Die wenigen, die es schaffen, von dort zu fliehen, landen vielfach in Kasachstan. Und wir lernen noch etwas anderes im Haus von Tursun, als über Politik zu schweigen: mit überbordender Gastfreundschaft umzugehen.

Ein Serviervorschlag für Schonkost im kasachischen Ramadan.
Foto: Sascha Aumüller

Kasachisch verzichten

Der Ramadan hat gerade begonnen, als Tursun zur Primetime des Verzichts ein Menü serviert, das wohl nur in Kasachstan als "Fastenspeise" durchgeht. Schon zu Mittag kommen dort Berge händisch gerollter Laghman-Nudeln zu gewürfeltem Lamm auf den Tisch, dazu Tonnen der gefüllten Teigtaschen Tügüre und, weil eine Sättigungsbeilage vor Sonnenuntergang nicht fehlen darf, ein Turm von Fladenbroten aus warmem Dim-Sum-Teig. Runtergespült wird dieser Serviervorschlag für uigurische Schonkost mit gesalzenem Buttertee, der normalerweise den Flüssigkeitshaushalt überhitzter Steppenreiter regulieren soll und eigentlich eine eigene Mahlzeit ist.

Doch Tursun ist nicht nur ein maßloser, sondern auch ein fairer Gastgeber: "Ihr müsst nicht aufessen", sagt er, "als Gäste genießt ihr in Kasachstan die Privilegien heiliger Kühe." Wie recht er damit hat, werden wir auch noch später in so manchem Wirtshaus bemerken, das zwar sonst nie Alkohol ausschenkt, Gästen aus dem Westen mitten im Ramadan aber Wodka in rauen Mengen. Eine angenehme Angewohnheit von Menschen, die immer die Lässigkeit des nomadischen Lebens über die Zwänge von Religionen stellten.

Herumtingeln verboten!

Apropos Nomaden: Das waren alle Kasachen irgendwann einmal. Dummerweise haben sich seinerzeit die Sowjets an eine alte napoleonische Bauernregel gehalten, die besagt: "Man kann kein Volk regieren, das ständig vor einem wegläuft", und ihnen das Herumtingeln untersagt. Fahrer Vadim und seine Kollegen halten sich zum Glück bis heute nicht daran.

Eine Jurte von innen und Menschen in Tracht: Versatzstücke der untergegangenen nomadischen Kultur Kasachstans.
Foto: Sascha Aumüller

Wir sind im Konvoi auf dem Weg in die Vorstadt von Almaty zu einem Ethnodorf für nomadische Kultur. Dieses Freilichtmuseum, das hinter riesigen Plakatwänden mit Werbung für Apple Pay versteckt liegt, hat etwas Skurriles. Vadim dreht sein Autoradio, das gerade "Spanish Caravan" von den Doors spielt, etwas leiser, als uns eine Nomadin in voller Montur, also mit Pfeil, Bogen und Apple Watch, in Empfang nimmt. In ihrem normalen Leben ist Sara Finanzbuchhalterin, hier, einen Tagesritt von Almaty entfernt, ist sie glücklich, weil sie die untergegangenen Kulturen ihrer nomadischen Vorfahren wie in Disneyland nachspielen kann. Das mag auf voreilig urteilende Besucher, die Folklore geringschätzen, abturnend wirken, doch Gemach. Pferdenarren etwa kommen hier voll auf ihre Kosten. Sie können zunächst dabei zusehen, wie junge Burschen die wildesten Kunststücke auf Pferderücken vollführen. Gleich danach wird in der Jurte Pferdefleisch serviert. Dazu gekochte Rinderzunge, ein ganzer Schafskopf und ein Merksatz für gelebte kasachische Esskultur: Zu Fleisch passt immer am besten Fleisch als Beilage.

Schafsköpfe gelten in Kasachstan als Spezialität und werden auf jedem Markt angeboten.
Foto: Sascha Aumüller

Das Beste vom Adler

Vadim verteilt unterdessen Lunchpakete, falls irgendjemand während der Fahrt Hunger leiden sollte. Der nächste Halt: ein Gasthaus am anderen Ende von Almaty. Im Autoradio läuft "The Best of Eagles". Werden wir in dem Wirtshaus auch noch das Feinste vom Adler kennenlernen? Zum Glück begrüßt uns dort nicht der Wirt, sondern Paul und stellt sich als Ornithologe vor. Er gehört der deutschen Minderheit in Kasachstan an, die beinahe so groß ist wie die uigurische. Seine Eltern wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland in die Sowjetunion verschleppt, er selbst ist in Kasachstan geboren. Heute gehört er zu den gefragtesten Falknern in Zentralasien, er tauscht sich immer wieder mit internationalen Experten wie etwa dem Österreicher Josef Hiebeler aus.

Paul gehört zur deutschen Minderheit in Kasachstan, ist Ornithologe und zeigt spektakuläre Greifvogelschauen.
Foto: Sascha Aumüller

Auf dem Gelände des Gasthauses Sunkar zeigt er spektakuläre Greifvogelschauen. "Wir züchten auch Falken, um sie in die Emirate zu verkaufen", erzählt Paul und lässt den Vogel ziehen, der gerade noch auf seinem Arm saß, um für einen größeren Platz zu machen. Ein Steppenadler, der in dem azurblauen Himmel über dem Tian-Shan-Gebirge eben noch als schwarzer Punkt zu erkennen war, nimmt zielsicher Kurs auf Pauls Falknerhandschuh. "Köpfe einziehen!", warnt er uns während des Landeanflugs, weil das Tier die Einflugschneise immer wieder zu knapp kalkuliert. Adler sind die Weite der Steppe gewöhnt. Da kann man doch ruhig ein wenig Platz machen als Älpler, die nur Enge kennen. (Sascha Aumüller, RONDO, 5.6.2019)