Das kapitalistische Grundprinzip, Nachfrage durch Verknappung in die Höhe zu treiben, funktioniert im Privaten nicht.

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Gestern, es war am helllichten Nachmittag, fand sich meine Freundin K. vor der Türe ihres Wohnhauses wieder. Sie lehnte an der Hausmauer und schmuste mit ihrem Ex. Der Zufall hatte es so gewollt, erzählte K. später, dass sie und besagter Herr sich innerhalb weniger Stunden zweimal über den Weg gelaufen waren. Beim zweiten Mal betrachteten es beide als Zeichen und packten die Gelegenheit beim Schopf.

Der nächste Geschäftstermin sollte warten. Jetzt stand K. vor ihrem Haus, kompliziert in einen Mann im Dreiteiler verkeilt, und überließ sich dem "flow of love". Nachbarn gingen ein- und aus. Aus einem Höflichkeitsreflex heraus hauchte meine Freundin zwischen den Zungenküssen mehrmals "Grüß Gott".

Ammenmärchen

Die spontane Aktion endete oben in ihrer Wohnung mit einem vielstimmigen Crescendo. Seither ist K. auffallend gut gelaunt. Was einmal mehr bestätigt: Auf dem Tanzparkett der Leidenschaften bringt Zurückhaltung nichts. – "Mach dich rar!", die oberste Regel unserer Mütter und Großmütter, kann man getrost ins Reich der Ammenmärchen verdammen.

Seit Kleopatra von den alten Römern als Luder verdammt wurde, predigen uns religiös motivierte Liebesexperten den Verzicht als Wunderwaffe. Doch das kapitalistische Grundprinzip, Nachfrage durch Verknappung in die Höhe zu treiben, funktioniert im Privaten nicht.

Digital gegrillt

Männer und Frauen sind im Computerzeitalter einfach nicht mehr so gebaut. Wer hat heute noch Zeit und Kraft, einen handgeschriebenen Liebesbrief zur Post zu tragen? Stunden vor dem Festnetzanschluss im Flur zu sitzen und auf den erlösenden Anruf zu warten?

Unsere Aufmerksamkeitsspanne hat die Halbwertszeit von einem Posting oder Tweet. Ein Like unter die neueste Petition gesetzt, schon ist die Erinnerung an den letzten Kuss verblichen, an das letzte Beben in der Brust, den letzten Schwur.

"Glaubst du, ich merk nicht, dass du nicht abhebst?!", schrie einst eine Liebe regelmäßig in mein Telefon. Heute kann man mit "Ghosten" nur noch Psychopathen bei der Stange halten.

Küchenmöbel, Arbeitszeiten, Spielfilmlängen. Warum sollte alles flexibel sein, aber nur die Liebe nicht? Man bewegt sich also am besten durch Zeit und Raum wie ein flirrendes Plankton im weiten Meer – um im richtigen Moment wie ein Barrakuda zuzuschlagen. So funktioniert's auch wieder mit dem Ex. (Ela Angerer, RONDO, 11.6.2019)