Körperlichkeit und ein tief mittelalterlicher Stoff

Foto: Anna Van Waeg

Zwetschken erregen "die Melancholie im Menschen", Porree bitte nicht roh verzehren, und das Schweinefleisch weckt beim Menschen "Stürme in seinen Sitten und Taten".

Diese Warnungen hinterließ Hildegard von Bingen (1098-1179), die vielverehrte Kirchenlehrerin, Universalgelehrte, Dichterin und Komponistin. Vor zehn Jahren hat Margarete von Trotta ihren Film Vision – Aus dem Leben der Hildegard von Bingen herausgebracht. Darin spielt auch die Musik der 2012 heiliggesprochenen Benediktinerin eine wichtige Rolle.

Betörendes Stück

Jetzt, bei den Festwochen in den Gösserhallen, zeigt der französische Choreograf François Chaignaud zusammen mit der Musikerin-Tänzerin Marie-Pierre Brébant ein betörend poetisches Stück mit Hildegard von Bingens Kompositionen: Symphonia Harmoniæ Cælestium Revelationum. Uraufführung war vor rund zwei Wochen beim Brüsseler Kunstenfestival. Dort in perfektem Rahmen: einer kleinen, säkularisierten Kirche mit stimmungsvoll verwittertem Innenraum. Das Gebäude ist heute Teil von Les Brigittines, einem der zahlreichen Kulturzentren, die in ganz Brüssel verteilt sind.

In Wien ist Chaignaud vor allem durch seine gemeinsam mit Cecilia Bengolea geschaffenen Arbeiten bekannt: Erst kam Pâquerette ins Brut-Theater, dann zeigte das Impulstanz-Festival so gut wie alle folgenden Stücke der beiden sexy Queer-Anarchos, inklusive einer Kooperation mit Trajal Harrell, an der auch Marlene Monteiro Freitas beteiligt war, die vor kurzem bei den Festwochen ihre Bacantes tanzen ließ.

Bemalte Körper

François Chaignaud hat sich allerdings in letzter Zeit verstärkt auf eigene Werke konzentriert: in Wien waren die Soli Dumy Moyi oder im Sommer des Vorjahres Romances inciertos, un autre Orlando zu Gast. Besonderes Gewicht legt der 36-jährige Franzose auf alte oder selten gespielte Vokalmusik. Denn er ist nicht nur ein imposanter queerer Tänzer und Buchautor, der einen Master in Geschichte hat, sondern auch ein beachtlicher Sänger.

Die Brüsseler Uraufführung der Symphonia Harmoniæ Cælestium Revelationum, in der Marie-Pierre Brébant die wohlklingende ukrainische Lautenzither Bandura zupft, bestätigte den Hang des Choreografen zum Getragenen und Sphärischen – nicht nur in der Musik, sondern auch im Tanz. Bewegung und Stimme sind eng miteinander verbunden. Zusätzlich aber unterfüttern Chaignauds und Brébants teils bemalte, teils mit Textteilen beschriebene Körper Hildegard von Bingens Musik mit einer starken erotischen Note.

Damit hintertreibt das Performer-Paar mit Genuss und unverkennbarer Ironie die Reinheit der lateinischen Gesänge. Queerer, bewusst ausgespielter Kitsch im Auftritt gehört zum jugendlichen Pathos von Chaignauds Countertenorstimme, die mit ihrer durchdringenden Emotionalität tief zu Herzen geht. (Helmut Ploebst, 29.5.2019)