In Wien hieß es Abschied nehmen von Kiss.

Foto: APA/HANS KLAUS TECHT

Alle wissen es schon vor dem Konzert: Gleich wird es eine Kinderjause geben. Wir Kinder sind schon sehr groß, manche von uns sind schon fast aus den schwarzen Angeberleiberln mit irgendwelchen Monstern drauf herausgewachsen. Vielleicht sind sie über die Jahre einfach auch beim Waschen eingegangen. Niemand weiß das. Mit Waschmaschinen kennt sich das Frautschi besser aus.

Das Frautschi schämt sich auch ein bisschen wegen der Kiss-Schminke, die wir zur Feier des Tages aufgelegt haben. Es ist aber eh nicht das einzige, für das sie sich für uns ganz grundsätzlich schämt. Erwachsenenzeug. Egal. Das sind dunkle Gedanken beim Wanken von der U-Bahn zur Wiener Stadthalle. Prost, Herbert. Uuuaahh! Rock und Roll!

Ein böser Onkel, der bei keinem Familienfest fehlen darf, hat in die Kinderbowle heute heimlich Alkohol gemischt. Kinder, die wackeln, das ist lustig! Auf den Pfandbechern, die so gut wie gar nicht zurückgegeben werden, damit uns zumindest diese daheim einmal an den heutigen Abend erinnern werden, ist ein Jugendfoto von den vier Kiss aus den 1970er-Jahren abgebildet. Darunter steht das zeitlose Motto "Destroyer" geschrieben. Hopfen est omen.

I Love It Loud!

Auf der Bühne züngeln jetzt Flammenwerfer und es krachen Böller. Dazwischen hört man von Sternauge Paul Stanley tapfer im Glitzer-Tutu herumstöckelnden Gesang im Frequenzbereich eines Sirenensignals aus dem Katastrophenschutzprogramm: Shout It Out Loud! Say Yeah! I Love It Loud! Das sind Lieder, die man als Kind unter Bundeskanzler Bruno Kreisky geliebt hat, wenn einem damals AC/DC zu derb oder die Rolling Stones zu alt und die Ramones zu schnell waren. Gleich kommt hier in der Stadthalle auch noch Heaven’s On Fire, War Machine oder Calling Dr. Love. Detroit Rock City war schon, aber da war während der Nummer ein Problem mit dem "Destroyer"-Becher.

Ach ja, bevor das langweilig zu werden droht, krachen auch einmal Böller oder es ist so, dass Flammenwerfer züngeln. Dazwischen zeigt uns unsere Lebensband Kiss, dass man nach 45 Bühnenjahren auch noch im fortgeschrittenen Rentenalter dem Übermut und der Unvernunft Tür und Tor öffnen kann. Ein wenig Angst vor der Altersarmut mag auch im Spiel sein, aber, hey, Rock’n’Roll!

Nicht so schlecht wie befürchtet

Kiss, die Mutter aller Plateaustiefelträger, Theaterblutspucker und vor allem schwarzweißer Supergrusel- und Halloween-Schminkeschminker aus dem Bereich harter Rock trifft zarten Metal spielt zum Erstaunen selbst ihrer allergrößten Fans nicht einmal so schlecht wie befürchtet. Vielleicht ergibt sich das auch einfach deshalb, weil Kiss derzeit eine dreijährige Abschiedstournee rund um den Globus absolvieren oder die aktuelleren Nummern, etwa Lick It Up oder Psycho Circus schon von 1983 oder 1998 stammen.

Es kann auch gut sein, dass es ihnen mittlerweile schlichtweg wurscht ist, ob sie sich beim Konzentrieren auf die hohen Absätze und die Stichflammen verspielen. Sie kommen ja wegen der guten Nachrede eh nicht wieder. Die gut im Futter stehende Fledermaus Gene Simmons am Bass wirkt bei seinem pflichtschuldigen Zungezüngeln, Blutspucken und Beckenkreisen jedenfalls ein wenig abwesend. Sekundenschlaf, er sei ihm verziehen. Er sitzt ja eh nicht am Steuer. Und, wenn gar nichts mehr geht: Schlagzeugsolo.

Gegen Schluss kamen dann zwei halbwegs gute Nummern. God Of Thunder und Love Gun. Der eine große Überhit kam auch noch. I Was Made For Lovin’ You. Der alte testosteronhaltige Falsettgesang kriegte hier das Reisserte. Auch Monster werden alt. Der Hardrock war es schon immer. (Christian Schachinger, 30.5.2019)