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Er pries die Natur, das Leben – und die körperliche Liebe: Walt Whitman (1819-1892).

Foto: AP / Library of America

Walt Whitman (1819-1892) gehört zu jenen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, über die man immer noch spricht, deren Texte längst die Buchseiten verlassen haben, aber noch immer in den Köpfen der Leser herumgeistern.

Bei Whitman, dem klassischen Dichter des amerikanischen Lebens, sind es vor allem seine Gedichte, mit denen er das Land und seine Menschen besang – vor allem in seinem lyrischen Hauptwerk Leaves of Grass ("Grasblätter"), mit dem er wie kein zweiter Amerikaner zum Weltpoeten wurde.

New Yorker durch und durch

Er war New Yorker durch und durch. Geboren auf Long Island, wuchs er in Brooklyn auf. Seine Eltern waren Anhänger des charismatischen Quäckerpredigers Elias Hicks gewesen, der die Göttlichkeit des Ichs betonte und die Einzigartigkeit von Jesus bestritt. Whitman hat den von afrikanischen Sklaven und amerikanischen Ureinwohnern abstammenden Häretiker immer verehrt und ihn für einen Helden der amerikanischen Demokratie gehalten.

Doch den Weg zur Literatur, zur Dichtung fand Whitman im Wesentlichen durch die Vermittlung von Ralph Waldo Emerson, dessen oft ausweichende Verschlossenheit er in seinem OEuvre verinnerlichte. So versprach er zwar häufig, die Hintergründe und komplizierten Zusammenhänge von Werk und Leben zu offenbaren. In Wahrheit aber blieb er bei der Strategie, über sich selbst möglichst wenig mitzuteilen.

Schwieriges Eltern-Verhältnis

Besonders schwierig war offenbar das Verhältnis zu seinem Vater, dem Quäker und Zimmermann Walter Whitman. Und nicht minder kompliziert jenes zu seiner Mutter Louisa Van Velsor, deren Persönlichkeit von ihm mit der Nacht, dem Tod und dem Meer gleichgesetzt wird. Whitman war homosexuell.

In dem Gedichtzyklus "Calamus" verschmilzt das lyrische Ich mit dem biografischen. In diesen Versen, die 1860 in einer frühen Ausgabe der Leaves of Grass erscheinen, bekannte sich der damals 41-jährige Dichter zu seiner Homosexualität. Den Begriff kannte man damals noch nicht. Whitman glaubte, dass der Körper in der Substanz das sei, was die fünf Sinne von der Seele erfassen können.

Sein Buch Der schöne Mann, eine Hymne auf den männlichen Körper, ein Text, der 150 Jahre lang als verschollen galt, ist erst kürzlich erstmals auf Deutsch (bei dtv) erschienen. Hier wird die Erotik eins mit der Sinnlichkeit seiner Begeisterung für das Angebot von Natur und Mensch: "Ich glaube an dich, meine Seele, mein anderes Teil soll sich nicht erniedern vor dir, noch du dich vor ihm."Aber nicht wenige seiner Landsleute sahen in dieser Glorifizierung der Homosexualität ein skandalöses Verhalten des Dichters.

So maßte sich ein Senator der Republikaner das Urteil an, Homosexualität sei dasselbe wie Kleptomanie. Und die fast ebenso wie Whitman berühmte amerikanische Schriftstellerin Emily Dickinson lehnte es sogar ab, Whitman wegen seiner Haltung überhaupt zu lesen. Doch kein Dichter vor oder nach ihm hat New York als paradiesisches Sündenbabel so gefeiert wie Whitman in seiner Ode Stadt der Orgien.

Blühender Flieder

Hier, in Manhattan, hatte er in seinen jungen Jahren als Zimmermann, Journalist und Makler gearbeitet. Er sprach später häufig von "seiner Stadt": "Ich werde in Manhattan und in jeder Stadt dieser Staaten, ob im Inland oder am Meeresufer, die herzliche Kameradenliebe einführen." In den frühen Gedichten seines Lebenswerks Leaves of Grass hatte Whitman vor allem die Natur und die Rolle des einzelnen Individuums gepriesen.

Zehn Jahre nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe, noch unter dem Eindruck des Attentats auf Abraham Lincoln, schrieb Whitman sein berühmtes Gedicht Als jüngst der Flieder blühte vor der Tür, eine Elegie auf den ermordeten Präsidenten.

Nach 1865 hatte Whitman seine produktivste Zeit als Dichter hinter sich. Bis zur totalen Erschöpfung, so berichten es Zeitgenossen, sei er durch die Hospitäler von Washington D. C. gezogen, um sich als freiwilliger Krankenpfleger um Leben und Sterben verwundeter oder verstümmelter Soldaten beider Seiten zu kümmern.

Im Tod von Lincoln, dem Vater der Nation, hatte er einen Zusammenhang mit dem Tod seines Vaters Walter Whitman ein Jahrzehnt zuvor gesehen. Der Fliederzweig, verbildlicht als die "Stimme meines Geistes", sei somit als eine Opfergabe an die beiden toten Väter zu verstehen. Es war Walt Whitmans lange Jahre unterdrücktes Schuldgefühl, von dem er sich hier endlich befreite.

Dass dieser Sänger der Demokratie (O Captain, my Captain) auch Prosa schrieb, wurde erst vor zwei Jahren bekannt, als der Whitman-Forscher Zachary Turpin ihn als Autor des 1852 anonym in einer Zeitung erschienenen Romans Life and Adventures of Jack Engle identifizierte, dessen Protagonist als Waise mitten im Großstadtdschungel von New York aufwächst, im Schmelztiegel verschiedenster Sprachen und Kulturen, unter Spaniern, Iren und Juden. Whitmans Roman weist nahezu alle Ingredienzien Dickens'scher Prosa auf.

Pioniergeist

Sein Jack könnte ein Bruder von Oliver Twist oder David Copperfield sein. Wie der große englische Dichter ist auch Whitman imstande, das Rührend-Moralische explizit hervorzuheben. Und doch ist daraus kein autobiografischer Roman geworden. Wohl aber gibt es Parallelen. Aber der Autor ist fest entschlossen, jeden auch nur geringsten Hinweis auf Privates zu vermeiden.

Die Lebensgeschichte eines Waisenjungen, der aus der Armut kommt, aber an sich glaubt und sich aus eigener Kraft aus dem Elend befreit – dieser Pioniergeist, der dem amerikanischen Glücksversprechen folgt – entsprach wohl seinem eigenen Credo. Es war das Bild der "Open Road", das Walt Whitman prägte. (Wolf Scheller, 1.6.2019)