Ljudmila Ulitzkaja, geb. 1943, russische Autorin, in der Galerie Karenina in Wien, Burgring 21.

Foto: Christian Fischer

Ulitzkaja: "Ich lebe seit 42 Jahren mit meinem Mann zusammen. Wir stehen morgens auf: Er geht ins Atelier, ich setze mich an den Schreibtisch. Er malt, ich schreibe. Was uns verbindet, sind gemeinsame Gedanken."

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"Politiker verschwinden wieder und bleiben entweder als gut oder schlecht in Erinnerung. Was bleibt, ist die Kultur, also das Werk von Künstlern, Schriftstellern, Musikern und Architekten," so Ulitzkajas Selbstverständnis.

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STANDARD: Sie sind heute eine der bekanntesten russischen Schriftstellerinnen, haben aber viele Stationen im Leben hinter sich. Begonnen haben Sie als Genetikerin, jetzt machen Sie auch Kunst?

Ljudmila Ulitzkaja: Mein Leben mag abwechslungsreich erscheinen. Aus meiner Sicht hat sich aber alles sehr natürlich entwickelt. Ich lebe seit 42 Jahren mit meinem Mann zusammen. Wir stehen morgens auf: Er geht ins Atelier, ich setze mich an den Schreibtisch. Er malt, ich schreibe. Was uns verbindet, sind gemeinsame Gedanken. Wir nutzen nur andere Mittel, um sie auszudrücken. Das war die Grundidee für diese Ausstellung, die sehr spontan entstand.

STANDARD: Wie spontan?

Ulitzkaja: Ich schreibe meine Bücher immer zuerst mit Bleistift. Irgendwann habe ich auch eine recht ungelenke Zeichnung gemacht. Andrej, stets der erste Leser meiner Texte, hat sie entdeckt und sich daran inspiriert. So ist der Zyklus Indischer Ozean entstanden, der hier in Wien gezeigt wird.

STANDARD: Ihr Mann ist Ihr erster Kritiker?

Ulitzkaja: Ein sehr wohlwollender, kultivierter Kritiker. Er hört meine Texte. Ich lese sie ihm vor. Es wirkt zwar immer so, als ob er schlafen würde, aber er hört gut zu. Wenn er brummelt, weiß ich, dass irgendetwas nicht passt. Dann überarbeite ich die Passage und stelle fest, dass er immer recht hat. Erst dann tippe ich die Texte in den Computer. Nach so vielen Jahrzehnten sind wir auf diese Weise gedanklich sehr stark verbunden.

STANDARD: Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als Sie als Genetikerin arbeiteten?

Ulitzkaja: Mein ganzes Leben lang habe ich mich für das Menschsein interessiert. Als Genetikerin interessierte mich der Mensch in seiner tierischen Dimension, gebildet zwar, aber schon ein Tier. Ich wollte als Genetikerin die Frage beantworten, wo die Grenze zwischen Tier und Mensch liegt.

STANDARD: Haben Sie es herausgefunden?

Ulitzkaja: Im Intellekt, also in unserem Gedächtnis, unseren Assoziationen, unserer Wahrnehmung von der Welt. Mittlerweile wissen Biologen, dass Tiere ein Bewusstsein haben und wahrscheinlich sogar ein Gedächtnis, aber das Gedächtnis von Tieren hat eine andere Funktion. Sicher ist, dass nur Menschen fähig sind, über lange Zeiträume zu denken, also ein Gefühl für Geschichte zu entwickeln. Hunde haben kein historisches Gedächtnis. Wir sind die einzigen Lebewesen, die zu Kunst und Wissenschaft fähig sind und insofern über schöpferische Kraft verfügen.

STANDARD: Dazu gehört auch die Literatur. Wann haben Sie diese Form entdeckt?

Ulitzkaja: Ich schreibe, seit ich denken kann. Es war für mich immer die selbstverständlichste Sache der Welt. In meiner Familie wurde immer geschrieben. Mein jüdischer Urgroßvater beschäftigte sich mit der Thora, verfasste Kommentare. Mein anderer Ugroßvater war der Gründer der russischen Demografie, er war der Erste, der zu diesem Thema ein Buch verfasst hat. Er ist der Held meines letzten Buches Jakobsleiter. Auch für meine Großeltern und Eltern waren Bücher wichtig. Insofern sehe ich den Ursprung des Schreibens in meiner Familie, dort wurde die Basis gelegt.

STANDARD: Wann haben Sie daraus einen Beruf gemacht?

Ulitzkaja: Zwischen meiner Arbeit als Biologin und derjenigen als Schriftstellerin liegen zehn Jahre, in denen ich meine beiden Kinder großzog, meine Mutter pflegte und mich schließlich von meinem ersten Mann trennte. Da musste ich plötzlich Geld verdienen. Es war einem Zufall zu verdanken, dass ich eine Arbeit als Regieassistentin in der Literaturabteilung des gerade wiedereröffneten jüdischen Theaters in Moskau fand. Dort habe ich viel gelernt. Als ich dort aufhörte, hatte ich einige Theaterstücke und Kinderbücher geschrieben.

STANDARD: Wann kam der Durchbruch?

Ulitzkaja: 1993 wurde mein erster Erzählband Arme Verwandte in Frankreich veröffentlicht, 1996 kam mein erster Roman Sonetschka heraus, der mit dem Prix Medicis ausgezeichnet wurde. Das war der Beginn.

STANDARD: Das war 1996. Sie waren 53.

Ulitzkaja: Ja, es ist sozusagen eine späte Karriere. Das hat Vorteile. Ich hatte nie das Gefühl, mich mit anderen vergleichen zu müssen, weil ich immer dachte: "Ich bin ja schon so alt, ich muss anderen nichts beweisen." Ich hatte keine Eile. Das gab mir dieses wunderbare Gefühl von Ruhe in meiner Arbeit. Auch das verbindet mich mit meinem Mann, den ich ungefähr so lange kenne, wie ich Bücher schreibe. Auch er ruht in sich, muss niemandem etwas beweisen. Das schärft den Blick auf die Dinge.

STANDARD: Sie beschäftigen sich in Ihren Büchern immer auch mit der russischen Geschichte. Was fällt Ihnen auf?

Ulitzkaja: Ich hatte Glück. Glück, in diese Zeit hineingeboren zu sein, in der ich heute lebe. Als Stalin starb, war ich zehn Jahre alt. Rund um mich brachen die Leute in Tränen aus, und ich stand da und war tiefunglücklich, weil ich dieses Gemeinschaftsgefühl nicht teilen konnte, fühlte mich nicht zugehörig. Erst später entdeckte ich, dass es andere Menschen wie mich gab und gerade sie immer Freunde wurden.

STANDARD: Würden Sie sich als politischen Menschen bezeichnen?

Ulitzkaja: Es gab keine einzige Minute in meinem langen Leben, in der mir jene gefallen hätten, die in Russland gerade an der Macht waren. Mich haben immer die Menschen, nie die Politiker interessiert. Politiker verschwinden wieder und bleiben entweder als gut oder schlecht in Erinnerung. Was bleibt, ist die Kultur, also das Werk von Künstlern, Schriftstellern, Musikern und Architekten, die sich mit der Zeit, in der sie leben, auseinandersetzen. Sie bilden das Fundament.

STANDARD: Politik beeinflusst Menschen.

Ulitzkaja: Politiker verteilen im Grunde genommen nur Geld. Und zünden dafür auch Kriege an, in denen es um Einfluss und die Verteilung von Land geht. Dabei gibt es kein schöpferisches Wollen.

STANDARD: Politik gestaltet Gesellschaft.

Ulitzkaja: Es gab eine historische Chance in den 1990er-Jahren, als sich Russland öffnete. Doch sie wurde vergeben. Das war mir klar, als sich die Leute der Partei wieder an die Spitze der neuen Bewegung stellten. Glücklicherweise kam ich nie in Kontakt mit dieser Macht. Die haben mich einfach nicht bemerkt. Ich war nicht auf deren Radar. Ich war nicht interessant für sie, und sie nicht für mich.

STANDARD: Aber wie wirkt sich das auf das Leben heute aus?

Ulitzkaja: In Russland gibt es einen Reflex: Diejenigen, die an der Macht sind, verstecken immer etwas, agieren im Geheimen. Das große Dilemma von jeher in der russischen Geschichte ist, dass die Menschen der herrschenden Macht gegenüber hörig sind. Das ist auch heute so. Und das ist der Grund, warum sich nichts Substanzielles ändert. Umgekehrt muss man aber schon auch sagen, dass es in der russischen Geschichte aus Sicht der Bevölkerung niemals vorher eine so gute Zeit gab wie jetzt. Es gibt keine Schlangen vor den Geschäften, es gibt keinen Hunger, man kann theoretisch alles kaufen.

STANDARD: Aber es gibt in Russland diese enorme Kluft zwischen Arm und Reich ...

Ulitzkaja: Wissen Sie: Der Mensch ist einfach zu menschlich. Wenn Eigenschaften wie Neid und Gier zu gesellschaftlichen Werten werden, dann haben wir eine Gesellschaft, die so ist, wie sie heute ist. Leider. Aber es gibt auch Millionäre, die umdenken und sich plötzlich sozial engagieren und Geld für sozial Bedürftige geben. Das werte ich als Zeichen dafür, dass sie bereit sind, der Gesellschaft und jenen Menschen, denen es schlecht geht, etwas zurückzugeben. Es hat sich in den letzten zehn Jahren eine Zivilgesellschaft gebildet. Es gibt viele wohltätige Initiativen, Leute, die sich engagieren. Das stimmt mich positiv und hoffnungsfroh.

STANDARD: In Ihren Büchern gibt es stets starke Frauenfiguren. Wie sehen Sie die Rolle der Frauen im heutigen Russland?

Ulitzkaja: Ich kann eines mit großer Bestimmtheit sagen: In Russland leben fantastische Frauen. Historisch und bis heute betrachtet gab es aber immer schon zu wenige Männer. Das hat drei Gründe: Es gibt immer Kriege, in denen junge Männer sterben. Heute kämpfen russische Soldaten in Syrien, in der Ukraine. Der zweite Grund: In Russland sitzen fast 750.000 Männer in Gefängnissen. Und drittens: der Alkoholismus. Wer trinkt, kann kein Liebhaber, kein Mann, kein guter Vater sein. Aber trotzdem wollen die Frauen heiraten und Kinder bekommen, das ist ein instinktives Verhalten. Deshalb nehmen sie vieles in Kauf, kompensieren die Defizite, kümmern sich um Kinder. Und während sich im Rest der Welt die Rollenaufteilung zwischen Männern und Frauen gerade verändert, bleibt in Russland alles gleich. Wir leben in einer sehr traditionellen Gesellschaft. Die Frauen sind viel zu beschäftigt, um auch noch politisch um ihre Rechte zu kämpfen.

STANDARD: Kein feministischer Aufbruch?

Ulitzkaja: Nein, den gibt ihn in dieser Form nicht. Frauen fühlen sich viel zu verantwortlich für andere, um für sich kämpfen zu können. Die von Frauen gegründeten Bewegungen in Russland setzen sich für die Rechte behinderter Kinder und die Hospizarbeit ein. Das heißt: Frauen sind zwar diskriminiert in der Gesellschaft, sie kümmern sich aber um andere, die noch stärker diskriminiert sind. Sie kämpfen nicht um einen Platz an der Sonne.

STANDARD: Russland im Spannungsfeld zwischen West und Ost. Zumindest im Lebensstil hat man sich dem Westen angenähert. Erfasst das nicht auch Rollenbilder?

Ulitzkaja: Es ist ein jahrhundertealter Kampf zwischen West und Ost. Russland hat sich nicht entschieden. Viele so wie ich bemühen sich, europäisch zu werden. Nur gibt es in Russland auch die andere Gruppe von Menschen, die sich dadurch beleidigt fühlen. Wir brauchen noch Zeit. (Karin Pollack, 10.6.2019)