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Abgesehen von Überstunden musste in Spanien bisher die Arbeitszeit (AZ) nicht erfasst werden. Der EuGH hat vor diesem Hintergrund entschieden, dass die EU-Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein "objektives, verlässliches und zugängliches System" einzurichten, mit dem die von jedem Arbeitnehmer "geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann".

Was heißt das für Österreich? Vorauszuschicken ist, dass anders als in Spanien die österreichischen Arbeitszeitregeln bereits sehr weitgehende Pflichten des Arbeitgebers zur Erfassung der Arbeitszeit vorsehen.

Die ersten öffentlichen Reaktionen meinten, dass die österreichische Regelung mit der neuen EuGH-Entscheidung kompatibel sei, sie äußerten aber gleichzeitig Bedenken, dass gewisse Aufzeichnungsformen (etwa das Saldomodell gemäß § 26 Abs 3 AZG) und die sogenannte Vertrauensarbeitszeit nicht mehr möglich seien. Andere Stellungnahmen meinten, dass künftig Heimarbeit wie etwa Telefonieren und E-Mails-Schreiben und Außendienst aufgezeichnet werden müssten, und brachten die Aufzeichnungspflicht auch mit Verfallsfristen für Überstunden in Verbindung; die Wirtschaftskammer sieht allerdings keinen Handlungsbedarf. Was stimmt nun?

Der Ausgangspunkt und Maßstab der EuGH-Entscheidung sind nicht die nationalen Arbeitszeitschutzregeln, sondern die europarechtlichen. Diese sind weitaus weniger engmaschig als die österreichischen Regeln, und der EuGH nennt in seiner Entscheidung nur folgende europarechtliche Schutzziele für die Arbeitszeiterfassungspflicht: die tägliche Mindestruhezeit von elf Stunden, die wöchentliche Mindestruhezeit von 35 (24+11) Stunden sowie die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeitobergrenze von 48 Stunden. Zur Umsetzung dieser Schutzziele verlangt der EuGH ein System, mit dem die vom Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit erfasst wird.

Wir übererfüllen den Standard

Die heimischen Grundregeln (in § 26 AZG und § 25 ARG) übererfüllen diesen EU-Standard, weil sie verlangen, dass Beginn und Ende der Arbeitszeit sowie jede Pause bzw. Unterbrechung exakt erfasst werden. Der EuGH verlangt diese Exaktheit gar nicht, für ihn genügt die Erfassung der "täglichen Arbeitszeit" zur Umsetzung der oben genannten europarechtlichen Schutzziele. Außerdem räumt er dem nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung einen Spielraum für Ausnahmen ein, insbesondere wenn die Dauer der Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann.

Somit sind allenfalls einige Sonderregeln der österreichischen Arbeitszeiterfassungspflicht zu diskutieren. Die Erleichterung, nur den Saldo der Tagesarbeitszeit erfassen zu müssen, wenn Arbeitnehmer die Lage ihrer Arbeitszeit und ihren Arbeitsort weitgehend selbst bestimmen können oder ihre Tätigkeit überwiegend in ihrer Wohnung ausüben, wurde bereits erwähnt. Diese Saldo-Erleichterung ist aus meiner Sicht unbedenklich, weil sie zum einen per se ohne Problem die Überprüfung der wöchentlichen Ruhezeiten und der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeitobergrenze von 48 Stunden ermöglicht.

Und die Vertrauensarbeitszeit?

Zum anderen ist diese Saldo-Erleichterung durch die vom EuGH erlaubte Ausnahmeregel gedeckt. Somit ergibt sich durch die neue EuGH-Entscheidung kein Problem in Österreich. Die von den Stellungnahmen angesprochenen Konflikte der EuGH-Entscheidung mit der Vertrauensarbeitszeit sind fiktiv, weil schon nach den geltenden österreichischen Regeln die Vertrauensarbeitszeit nicht möglich war oder nur für einen sehr eingeschränkten Personenkreis, der von der Anwendung der Arbeitszeitregeln ausgenommen war. Auch die Aussage, dass nunmehr auch Heimarbeit und Arbeit im Außendienst erfasst werden müssen, hat mit der neuen EuGH-Entscheidung nichts zu tun. Selbstverständlich muss schon nach den geltenden Regeln jede Arbeit erfasst werden, gleich ob sie zu Hause oder im Außendienst erbracht wird. Dazu gehören natürlich auch berufliche Telefonate und E-Mails. Dass die gelebte Aufzeichnungspraxis oft von diesen Regeln abweicht, ist ein anderes Thema. Somit ergibt sich durch die neue EuGH-Entscheidung keine Neuerung in diesem Bereich.

Und zuletzt ist auch die angebliche Verbindung der neuen EuGH-Entscheidung mit dem Verfall von Überstunden aus meiner Sicht ohne rechtliche Rechtfertigung. Zum einen sind arbeitsvertragliche und kollektivvertragliche Verfallsfristen bei der Geltendmachung von Überstunden keine unmittelbare Frage der Arbeitszeiterfassung. Sie dienen für beide Seiten der raschen Bereinigung von potenziellen Streitigkeiten. Zum anderen gibt es dazu bereits eine Regelung (in § 26 Abs 9 AZG), welche bei Verfehlungen des Arbeitgebers bei der Arbeitszeiterfassung die zivilrechtlichen Verfallsfristen hemmt. Die neue EuGH-Entscheidung bringt also auch in diesem Bereich keine Neuerung. (Ralf Peschek, 4.6.2019)