Was Brigitte Bierlein wertvoll ist, schützt sie wie eine Löwin. Im September 2004 wird die damalige Höchstrichterin spätabends brutal überfallen. Ein Unbekannter will ihr die Tasche aus der Hand reißen, doch sie klammert sich an ihr Eigentum und lässt nicht los. Der Mann soll sie sogar mehrere Meter über die Straße gezerrt haben. Vergeblich. Bierlein schreit, doch gibt nicht auf – bis er unverrichteter Dinge davonläuft. Sie muss ins Krankenhaus, ist verletzt, doch erklärt später ganz emotionslos: Sie musste die Tasche behalten – wegen der Kreditkarte. "Die Rennerei" für neue Dokumente habe sie sich ersparen wollen.

Abgebrüht durch Männer

Vielleicht lernt man diese Form der Abgebrühtheit, wenn man sich laufend in Männerdomänen behaupten musste. Denn darin ist Bierlein sozusagen Spezialistin. Sie war die erste Frau in der Wiener Generalprokuratur, der höchsten Staatsanwaltschaft der Republik. Sie wurde die erste Vorsitzende der heimischen Staatsanwältevereinigung. Als erste Frau stieg sie im Verfassungsgerichtshof zur Vizepräsidentin auf. Im Vorjahr übernahm sie dann den Vorsitz – als erste Frau in der Geschichte Österreichs, versteht sich.

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Frau Doktorin Brigitte Bierlein am Donnerstag in der Präsidentschaftskanzlei.
Foto: REUTERS/LISI NIESNER

Alexander Van der Bellen, schon damals Bundespräsident, würdigte sie bei ihrer Angelobung zur obersten Höchstrichterin als ewige "Pionierin" – als hätte er es schon geahnt. Nun wird die 69-jährige Topjuristin also die erste Bundeskanzlerin Österreichs. Bei ihrem Lebenslauf, könnte man sagen, überrascht das nun eigentlich auch nicht mehr wirklich.

Politischer Stich

Naheliegend war es aber freilich auch nicht. Denn Bierlein gehört keiner Partei an. Und wer hätte noch vor einem Monat gedacht, dass ein auf Ibiza heimlich aufgenommenes Video die türkis-blaue Regierung sprengt und der Bundespräsident nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen Sebastian Kurz und sein Team ein Expertenkabinett einsetzen könnte? Bierlein selbst nach eigener Angabe jedenfalls nicht: "Das ist jetzt für Sie sicher überraschend", erklärte sie, als sie von Van der Bellen am Donnerstag vorgestellt wurde. "Für mich ist es das auch."

Bundespräsident Alexander Van der Bellen war voll des Lobes für Bierlein, die wolle nun das Vertrauen der Österreicher gewinnen.
Foto: Christian Fischer

Einen politischen Stich hat die designierte Chefin der Übergangsregierung allerdings schon. Jedenfalls kann man die 69-Jährige als Bürgerliche bezeichnen. Manche nennen sie rechtskonservativ. Sie pflegt gute Kontakte zur ÖVP, aber auch ins freiheitliche Lager. Verfassungsrichterin wurde Bierlein, nachdem die schwarz-blaue Regierung sie 2002 knapp vor der Nationalratswahl noch dazu ernannt hatte. Juristenkollegen von damals ätzen: Fachlich aufgefallen sei sie davor eigentlich nie. Als Staatsanwältin galt sie als hart und streng. "Law and Order ist ihr nicht fremd", erzählt einer ihrer Fachgenossen.

Spott über modische Juristin

Auch nach ihrem Wechsel ans Höchstgericht vor mehr als 15 Jahren soll so mancher alte Herr dort gespottet haben über die modisch gekleidete Juristin mit wallender Mähne. Bierlein sei dabei immer tough geblieben. Inzwischen hat sie sich einen einwandfreien Ruf erarbeitet. Sie wird als hochintelligent und kompromissfähig beschrieben. Bierlein schaffe das Kunststück, im richtigen Moment resolut, aber nie stur zu sein.

Offen gestritten hat sie nur regelmäßig mit ihrem Vorgänger am Verfassungsgerichtshof, dem inzwischen pensionierten Gerhart Holzinger – der ebenfalls als Kanzlerkandidat für die Expertenregierung gehandelt wurde.

Eloquent und josephinisch

Auf den Mund gefallen ist Bierlein jedenfalls nicht, sagt einer, der sie gut kennt. Auch als Höchstrichterin äußerte sie immer wieder ihre Meinung: Sie sprach sich gegen Frauenquoten aus, weil "Frauen das eigentlich nicht mehr brauchen sollten". Ein Kopftuchverbot bezeichnete sie als "problematisch". Die von der Regierung angestrebte Präventivhaft für potenzielle Straftäter tadelte sie als "Anlassgesetzgebung", der sie "skeptisch" gegenüberstehe. Und nachdem die türkise Staatssekretärin Karoline Edtstadler ihre Strafrechtsreform auch mit der aufgeheizten Stimmung in sozialen Medien begründet hatte, konterte Bierlein besonnen: "Auf Internet-Kommentare würde ich überhaupt nicht bauen."

Brigitte Bierlein und der Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs, Christoph Grabenwarter, vor Beginn einer öffentlichen Verhandlung im März.
Foto: APA/ROBERT JAEGER

Zumindest zuletzt will ihr auch kein Kollege mehr Parteilichkeit unterstellen: "Sie arbeitet wie eine seriöse, fast josephinische Beamtin", sagt jemand, der sie beruflich seit langem beobachtet.

Keine Zeit für Job und Kind

Für eine Familie hatte Bierlein nie Zeit, erzählte sie in der Vergangenheit in Interviews. Sie habe es sich einfach nicht vorstellen können, Job und Kinder unter einen Hut zu bringen. Auch ihr langjähriger Partner war als Jurist tätig – einst galt er als berüchtigter Medienrichter.

Bierlein wurde 1949 in Wien geboren. Ihr Vater war Beamter, die Mutter hatte eine Kunstausbildung, blieb aber zu Hause. Als junge Frau wollte Bierlein eigentlich Kunst oder Architektur studieren, davon sollen ihr dann Mutter und Vernunft abgeraten haben. So wurde es die Rechtswissenschaft. In nur vier Jahren absolvierte sie das Studium, mit 26 Jahren legte sie die Richteramtsprüfung ab, noch vor ihrem 30. Geburtstag war Bierlein Staatsanwältin.

Bierlein in ihrem Büro, kurz nachdem sie zur Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs gekürt wurde.
Foto: Andy Urban

In ihrer Freizeit soll sie aber bis heute regelmäßig Vernissagen und Ausstellungen besuchen. Bei sich zu Hause hat die begeisterte Kunstsammlerin auch ein Bild des österreichischen Malers Josef Mikl hängen. Wenn es zeitlich möglich sei, gehe sie liebend gern in die Oper.

Doch nicht reaktionär?

SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim bezeichnete Bierlein einst als "reaktionär". Die Einschätzung von damals will er heute revidiert wissen: "Ich habe selten eine so korrekte Persönlichkeit erlebt. Sie wird sehr zur Beruhigung der Lage beitragen." Auch in allen anderen Parteien werden inzwischen nur noch lobende Worte für sie gefunden. Bloß die Neos monierten neben aller Freude, es sei doch ziemlich typisch, dass eine Frau richten müsse, "was Männer zuvor zerstört haben".

Bierleins Kanzlerschaft wird spätestens im Winter wieder enden. Danach fehlt eigentlich nur noch eines in ihrer Vita – Österreich hatte schließlich noch nie eine Bundespräsidentin. (Katharina Mittelstaedt, 1.6.2019)