Sebastian Kurz winkt nach seiner Abwahl als Bundeskanzler.

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Der deutsche Diplomat und Historiker Ulrich Schlie wagt in seinem Gastkommentar einen Blick von außen auf die Krise in Österreich und stellt allgemein geltende Muster fest.

In der internationalen Presse steht Österreich gegenwärtig hoch im Kurs. Auch in Deutschland verfolgt man die politischen Ereignisse mit großer Aufmerksamkeit. Für Vergleichsmaßstäbe muss man in den Annalen weit zurückblättern. Es ist vor allem die Mischung aus Neugier und Staunen, die dieses Interesse begründet. Dabei kommen mehrere Faktoren zusammen.

Zunächst ist die Abwahl eines Kanzlers und der Minister seiner Regierung ein in der Bundesverfassung vorgesehener, grunddemokratischer Vorgang. Wenn die Motive der Freiheitlichen, deren einstiger Minister Kickl gleich nach seiner Entlassung dem ÖVP-Kanzler "kalter Machtbesoffenheit" vorgeworfen hat, andere als rein machttaktische sein sollten, so wirft dies grundsätzliche Fragen nach dem Kalkül der Zusammenarbeit in der jetzt zerbrochenen türkis-blauen Koalition auf.

Sebastian Kurz hat nach der Veröffentlichung des Strache-Videos alles richtig gemacht, und er hatte unter den gegebenen Umständen wohl auch keine andere Wahl als die der Koalitionsauflösung. Gleiches kann für die Oppositionsführerin, die eine Zeitlang brauchte, um zu einer Linie zu finden, nur mit Einschränkungen behauptet werden. Krisen wie die gegenwärtige sind eigentlich Stunden der Opposition und des Parlaments. Auffallend häufig auch bemüht Pamela Rendi-Wagner die Worte "Vertrauen" und "Parlamentarismus". Ob am Ende das Vertrauen in die demokratischen Institutionen gestärkt sein wird, hängt ganz wesentlich auch vom politischen Stil und der Fähigkeit der Parteien zu Konsensbildung und Kompromiss ab.

Wagnis Expertenregierung

Die Einsetzung einer Expertenregierung, die bis zu den Wahlen im September amtiert, ist Neuland. Bei aller fachlichen Kompetenz und Integrität der neuen Bundeskanzlerin und der jetzt einrückenden Minister ist das nicht ohne Risiko. In Brüssel wird in den nächsten Monaten über Zusammensetzung und Portfolio einer neuen Kommission und weitere europäischer Spitzenämter gerungen. Dies ist zunächst eine Frage der Staats- und Regierungschefs, aber natürlich auch der Parteivorsitzenden im Rahmen ihrer jeweiligen politischen Gruppierungen. Einen Startvorteil bedeutet es da nicht, mit einer gänzlich neuen, "unpolitischen" Mannschaft anzutreten.

In Gesetzgebung und Verwaltungspraxis werden zudem von einer Expertenregierung, die nur wenige Monate im Amt sein wird, keine wegweisenden Impulse zu erwarten sein. Entscheidend wird sein, wie Ende des Jahres der Blick zurück auf das Wagnis einer Expertenregierung ausfallen wird: Stärkt die Berufung von Experten das Vertrauen in die Politik, oder wird es den Graben zwischen Wählern und Gewählten verbreitern? Wer von den Experten wird nach den Nationalratswahlen – in welcher politischen Konstellation auch immer – bleiben? Wer wohin gehen? Und wie werden in Zukunft Regierungsmitglieder in Wien ausgewählt?

Nachbarländer haben mit reinen Expertenregierungen unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Das deutsche Grundgesetz sieht – anders als die Weimarer Reichsverfassung – kein Misstrauensvotum gegen einzelne Minister vor. Die Abwahl des Regierungschefs ist nur in einem einzigen Fall, dem des konstruktiven Misstrauensvotums, vorgesehen, in dem mit den Stimmen der Mehrheit des Parlaments zugleich ein neuer Regierungschef gewählt wird. Auf österreichische Verhältnisse übertragen hätte dies wohl bedeutet, dass sich alle Oppositionsparteien und die gerade aus der Regierung ausgetretenen Freiheitlichen auf einen gemeinsamen Kandidaten hätten verständigen müssen.

Großkoalitionäre Folgewirkungen

Das eigentlich Interessante an den gegenwärtigen Ereignissen sind die mittel- und langfristigen Auswirkungen auf das Parteiengefüge und die künftige Koalitionsarithmetik. Das Ende von Türkis-Blau unter diesen Umständen markiert einen Einschnitt in der Geschichte der Zweiten Republik. Eine Fortsetzung dieser Koalition zum gegenwärtigen Zeitpunkt erscheint nicht denkbar. Wer mit wem und wie viele? Darüber wird zunächst der Wähler mit seinem Stimmzettel befinden, und es wird, wie immer, Sieger und Verlierer geben. Ein Verlierer steht dabei jetzt schon fest: die Freiheitlichen, die mit Straches Allmachts- und Korruptionsfantasien dem politischen System als ganzem einen Tort angetan haben und die sich in der Gegenwart als kaum koalitionsfähig entpuppt haben.

Konsensbildung war die große Konstante und Errungenschaft österreichischer Politik in den ersten Nachkriegsjahrzehnten. Die Kehrseite ist mit den Jahren immer deutlicher hervorgetreten: die Zwänge und geringe Attraktivität großer Koalitionen, Macht und Ohnmacht in Österreich, wie es einst Josef Klaus im Titel seiner Memoiren genannt hat. Gerade die Beschäftigung mit großkoalitionären Folgewirkungen für politische Systeme könnte das hohe Interesse der Deutschen an den gegenwärtigen Entwicklungen in Österreich erklären.

Bleibt die Causa selbst, die über alle Ingredienzen des Geheimnisvoll-Sensationellen verfügt: unglaubliche, demokratieuntaugliche Aussagen, die aufs Schlimmste die düstersten Klischees zu bestätigten scheinen, ein noch immer ungeklärter Hintergrund und die Motive der Fallensteller, schließlich die Mitwirkung von Personen aus Halb- und Unterwelt, nicht zuletzt das Verhältnis zu Russland in seinen Facetten Abhängigkeit, Infiltration und Konkurrenz. Zuletzt: Es ist eine pikante Note, dass im Kern von Straches Skandalvideo auf die Käuflichkeit der Medien spekuliert wird, jener Medien, die ihn einst groß gemacht haben und ohne die die politische DNA von Strache und Gudenus nicht hätte entziffert werden können.

Politik im 21. Jahrhundert folgt mehr als je zuvor den Gesetzen von Medien und Öffentlichkeit. Sie braucht Regeln und Kontrolle, handlungsfähige Institutionen, Checks and Balances, sonst droht sie aus dem Ruder zu laufen. Auch wirksame Nachrichtendienste gehören zu dieser Balance. Die Medien selbst sind dabei Objekt und Subjekt zugleich. All dies ist von grundsätzlicher Bedeutung. Was wir gegenwärtig in Wien beobachten können, ist eine gesamteuropäische Erscheinung. (Ulrich Schlie, 31.5.2019)