Xiao Yang starb am 19. April in Peking im Alter von 81 Jahren. Er war zehn Jahre lang Präsident des Obersten Gerichtshofs gewesen. Die Volkszeitung würdigte ihn mit einem langen Nachruf, und darin verbarg sie einen Satz, den nur Eingeweihte verstanden: "Während der politischen Wirren im Übergang zum Sommer 1989 bewies Xiao einen festen Standpunkt und zeigte klar Flagge."

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Das Foto eines einzelnen Mannes, der einen Panzerkonvoi aufhält, ging um die Welt und gilt heute als Ikone der Zeitgeschichte.
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Gemeint war das Tian'anmen-Massaker vom 4. Juni 1989. Xiao hatte sich hinter die Entscheidung der chinesischen Parteiführer gestellt, die Studentenbewegung mit Waffengewalt niederzuschlagen und den Platz des Himmlischen Friedens freizuräumen. Mit dem Lob für seine Loyalität verbindet sich eine Botschaft: 30 Jahre nach dem Massaker denkt Peking nicht daran, die Vorgänge neu bewerten zu wollen, die heutige Führung ist nicht bereit, die Untaten ihrer Vorgänger aufarbeiten zu lassen.

Sie hält deren Entscheidungen weiterhin für richtig, möchte aber kein Aufhebens machen. Statt "4. Juni" schreibt sie "Übergang zum Sommer". Aus dem "konterrevolutionären Aufruhr" sind "politische Wirren" geworden. Peking will seine Bevölkerung alles vergessen lassen, um sich nicht seiner Verantwortung zu stellen.

Bei den jungen Generationen scheint es zu gelingen. Sie haben weder in der Schule noch vom Elternhaus erfahren, was es mit dem 4. Juni 1989 auf sich hatte. Für alle Medien und das Internet ist schon die Nennung des Datums tabu.

Widersprüchliche Zahlen

Anders als im Lebenslauf für Richter Xiao fehlt im Nachruf der Volkszeitung auf den 91-jährigen Regierungsfunktionär Yuan Mu im vergangenen Jänner jeder Verweis auf 1989 – aus gutem Grund: Er hätte Nachfragen auslösen können, denn Yuan war damals Regierungssprecher – die einzige Stimme Chinas, die über das weltweit Entsetzen auslösende Massaker berichten durfte.

Zehntausende demonstrierten bereits am 2. Juni für eine Öffnung des Landes und für mehr Demokratie.
Foto: AFP / Catherine Henriette

Am 6. Juni bekannte er, wie viele Personen beim Durchmarsch der um sich schießenden Armee zum Tian'anmen-Platz getötet worden waren. "An die 300 Menschen", sagte er – darunter "Armeeangehörige, Aufrührer, unschuldige Passanten und 23 Studenten". 5.000 Soldaten und 2000 Zivilisten seien verletzt worden. Zehn Tage später wiederholte Yuan diese Zahlen auch vor ausländischen Korrespondenten.

Dreimal gab das Regime öffentlich Auskunft, zuletzt am 30. Juni 1989. Oberbürgermeister Chen Xitong korrigierte die Schreckensbilanz: Zehn Soldaten seien getötet, 6.000 verletzt worden; 200 Zivilisten starben, darunter 36 Studenten; 3000 wurden verletzt. Die wirkliche Anzahl der Toten in der Nacht und bis zum 6. Juni sowie in rund 80 Städten Chinas, wo es zu Aufruhr kam, blieb bis heute unaufgeklärt.

Ich war damals Korrespondent und teilte mir als Untermieter mit drei US-Kollegen das Büro der New Yorker Zeitschrift "Newsday" im Jianguo-Menwai-Komplex, rund sechs Kilometer vom Tian'anmen-Platz entfernt. Wir nahmen an, dass die meisten Toten und Verletzten im Chaos der Nacht von Helfern in Krankenhäuser im Umkreis des Changan-Boulevards gebracht wurden, wo sich die Armee den Weg freischoss. Wir fragten am 4. Juni bei einem halben Dutzend der 32 Hospitäler in der Innenstadt nach.

Auf der Suche nach Opfern

Einige erlaubten chinesischen Mitarbeitern von "Newsday", in ihre Totenhallen zu schauen. Andere hängten Namenslisten der Opfer aus. Ärzte gaben Auskünfte.

Im Hauptstadtkrankenhaus erfuhren wir von 40 Toten und 300 Verletzten. Viele Opfer meldete auch das Peking Medical College, andere zählten sieben bis ein Dutzend Tote. Wir schätzten die Zahlen auf 500 bis 600 Opfer in der Nacht auf den 4. Juni, während Gerüchte tausende meldeten. Von Verwandten erfuhren wir, dass mitfühlende Ärzte sie überredeten, falsche Todesursachen zu unterzeichnen, um ihre Liebsten zur privaten Einäscherung herausholen zu dürfen.

Panzer auf der Chang'an Avenue, die zum Platz des Himmlischen Friedens führt – 6. Juni 1989, zwei Tage nach dem Massaker.
Foto: AFP/MANNY CENETA

Auch die "Tian'anmen-Mütter" gehen von hunderten Toten in der ersten Nacht aus. Trotz Verfolgungen und Schikanen gründete die Professorin Ding Zilin 1995 ihren nichtanerkannten Verein für Angehörige, die Kinder und Verwandte verloren hatten. Dings 17-jähriger Sohn wurde erschossen. Gemeinsam forderten sie in offenen Briefen an die Staatsführung immer wieder die Rehabilitierung der Opfer und erhoben Klage gegen die politisch Verantwortlichen. Ding konnte die Schicksale von 203 Getöteten dokumentieren. Viele Tian'anmen-Mütter wurden jedes Jahr um den 4. Juni von Behörden auf Zwangsurlaub aus der Hauptstadt verbannt, um während des heiklen Termins nicht in Peking daran erinnern zu können. Auch in diesem Jahr ist es wieder so.

Im Ungewissen belassen

Andere landen in Hausarrest, so wie der hochangesehene 88-jährige Militärarzt Jiang Yanyong. In offenen Briefen forderte er Chinas Präsident Xi Jinping zur Neu bewertung des "Verbrechens vom 4. Juni" auf. Seit dem 16. April wird Jiang, ohne Kontakt nach außen haben zu dürfen, in seinem früheren Krankenhaus festgehalten. Als Chirurg arbeitete er dort 60 Jahre lang.

Chinas Führung hat bis heute die Welt im Ungewissen über die Ereignisse gelassen. Die Zahl der Getöteten ist Staatsgeheimnis. Das Parteiblatt Global Times glaubte, sich über Berichtsverbote hinwegsetzen zu können. Chefredakteur Hu Xijin verfasste eine Polemik: "Der Westen hypt falsche Tian'anmen-Todeszahlen." Er bezog sich auf ein Schreiben des damaligen britischen Botschafters in Peking, Alan Donald. Londoner Archive gaben es 2017 frei.

Als politisch Hauptverantwortlicher für das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens gilt der damalige KP-Chef Deng Xiaoping (1904–1997), der noch heute in China verehrt wird.
Foto: AFP/NICOLAS ASFOURI

Donald behauptete darin, er hätte von einem Regierungsmitglied erfahren, dass beim Massaker 10.000 Menschen getötet wurden. So viele Tote, konterte Hu, seien ein Ding der Unmöglichkeit, wo es doch nur um die Auflösung "unbewaffneter Kundgebungen" ging und die "Mehrheit der Protestierenden Studenten ausmachten".

Sein Kommentar erschien nur in der englischsprachigen Ausgabe der Zeitung am 25. Dezember 2017, als ausländische Journalisten in Weihnachtsurlaub waren. So fiel er niemandem weiter auf – was Hu wohl eine Disziplinarstrafe ersparte. Denn er hatte nicht nur gegen ein Tabu verstoßen, unfreiwillig bestätigte er mit seinen Argumenten, welches Unrecht Peking mit dem Einsatz der Armee angerichtet hatte. Eine neuerliche Evaluierung des 4. Juni würde sofort Fragen nach anderen unaufgearbeiteten Verbrechen der Kommunistischen Partei aufwerfen.

Tian'anmen war weder ein Betriebsunfall noch eine Verkettung unglücklicher Umstände, wie Ex-Premier Li Peng es dem Ausland weismachen wollte. Am 1. Juli 1989 rechtfertigte er sich im Gespräch mit dem US-amerikanischen Politiker Daniel K. Wong: "Unsere Soldaten wollten kein Blut vergießen. Aber sie hatten keine Wasserwerfer, nicht genug Tränengas oder Gummigeschoße."

Deng Xiaopings Rolle

Der Hauptverantwortliche, KP-Chef Deng Xiaoping, war bereit, systemgefährdende Konflikte mit Gewalt zu lösen. Schon am 30. Dezember 1987 diskutierte Deng mit einer Gruppe Politbüromitglieder über Maßnahmen zur Unterdrückung damaliger Studentenproteste und ließ seinen zu liberal handelnden Parteichef Hu Yaobang absetzen.

Deng lobte Polens Partei- und Militärchef Wojciech Jaruzelski, der 1981 rechtzeitig das Kriegsrecht verhängt hatte, bevor sich "die Gewerkschaft Solidarność, die katholische Kirche, die Demokratiebewegung und der subversive Westen" verbünden konnten. "Ohne diktatorische Maßnahmen geht es nicht. Das muss man nicht nur sagen, sondern zur richtigen Zeit auch umsetzen können. Natürlich in möglichst zurückhaltender Weise. Wenn wir aber nachgeben, werden wir uns noch schlimmere Probleme schaffen."

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Alljährlich gedenkt man in Hongkong mit einem Lichtermeer der Geschehnisse vom 4. Juni 1989 in Peking. (Archivfoto von 2016)
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Genau das passierte im Juni 1989. Deng war aber auch der Einzige in Chinas Führung, der drei Jahre nach dem 4. Juni eingestand, wie knapp die Partei damals an ihrem Untergang vorbeigeschrammt war. Im Jänner 1992 sagte er: "Hätten wir 1989 nicht die Früchte unserer Reformen und Öffnungspolitik schon gehabt, hätten wir es nicht geschafft, über den Bergpass des 4. Juni zu kommen. Chaos und Bürgerkrieg wären die Folge gewesen. Warum gelang es nach dem 4. Juni, unser Land wieder zu stabilisieren? Nur weil wir weiter mit Reformen und Öffnung die Wirtschaft entwickelten."

Wie die Sowjetunion enden?

Die Angst, wie die Sowjetunion zu enden, treibt auch den heutigen Staats- und Parteichef Xi Jinping seit seinem Amtsantritt um – ein Grund dafür, warum er die ideologischen Zügel anzieht und jeden Dissens im Keim ersticken lässt.

Fraglich ist, ob Xi so wie Deng rechtzeitig auch wieder loslassen kann. Solange Pekings Führung keine Verantwortung für die Ereignisse von Tian'anmen übernehmen will, schreibt sie sich, wie die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warnte, einen eigenen Freibrief. Sie wird in kritischen Fällen heute wieder genauso handeln wie 1989. (Johnny Erling aus Peking, 3.6.2019)