Einige Gesellschaftsverträge wurden im Laufe der Jahrhunderte entworfen, Rousseau legte vor mehr als 200 Jahren seinen Debattenbeitrag vor.

A. Görlach: Vertrauen ist verlorengegangen.

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Alexander Goerlach fordert in seinem Gastkommentar ein Überdenken der überkommenen Gesellschaftsstrukturen.

Die Demokratie ist in der Krise, überall auf der Welt. Das klingt verstörend, wird aber besser verdaulich, wenn man genauer hinschaut und feststellt, dass die Gründe dafür überall, mit nationalen Nuancierungen, dieselben sind. Denn das bedeutet, dass es nur einem Land gelingen muss, die Demokratie zu renovieren, und die gesamte freie Welt ist wieder auf dem goldenen Pfad, den sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschritten hat. Was ist nun dieser Grund?

Die Demokratien, in denen wir leben, garantieren die Menschenrechte, kodifizieren sie in einer Verfassung und errichten auf ihr die staatliche Gemeinschaft. Jede Bürgerin hat auf dieser Grundlage Rechte: das Wahlrecht, das Recht auf schulische Ausbildung, das Recht auf Gesundheitsversorgung. Diese beiden Rechtegattungen, Bürgerrechte und soziale Rechte, sind miteinander verwoben, wie der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf herausgestellt hat. Denn was bringt einem Menschen das Wahlrecht, wenn er nichts zu essen hat? Das Versprechen der Demokratie ist daher Freiheit und Teilhabe zugleich.

In den demokratischen Gesellschaften driften diese beiden seit nunmehr einem Vierteljahrhundert auseinander: Das Haushaltseinkommen stagniert, wohingegen das Bruttoinlandsprodukt steigt. Das heißt, dass es der Wirtschaft gut und besser geht, davon aber nichts bei den Menschen ankommt. Die Frustration, die daraus keimt, nennt der Stanford-Professor Francis Fukuyama "Indignation", Entwürdigung. Der Mensch spürt, dass nicht mehr er im Mittelpunkt steht. Und das, obwohl er doch der Souverän der Demokratie ist.

Objekt der Wirtschaft

Im Mittelpunkt stehen heute, in der digitalen Ökonomie, die Daten. Geschäftsmodelle beruhen auf ihnen, der Mensch ist nur noch der Beschaffer dieser Daten. Er ist somit nicht mehr Adressat der Wirtschaft, sondern ein Objekt. Hinzu tritt, dass der Prozess der Automatisierung die Arbeitswelt verändert und zusammen mit dem zuerst genannten ein Gefühl der Machtlosigkeit, der Entwürdigung bei den Bürgern erzeugt. Dieses Gefühl wächst sich zur Angst aus und entlädt sich in Zorn. Das ist die Stunde der Populisten, für die es eine Kleinigkeit ist, diesen Zorn zum Ressentiment zu machen: ein Ressentiment gegen das Neue, gegen die Veränderung, gegen Flüchtlinge, gegen "die da oben".

Alvin Toffler hat bereits vor einem halben Jahrhundert in seinem Buch Der Zukunftsschock geschrieben, dass es Zeiten gibt, in denen der Fortschritt so schnell geht, dass selbst die Eliten nicht mehr hinterherkämen, ihn zu verstehen und zu erklären. Niemand gibt gern zu, dass er etwas nicht weiß, und so macht sich auch hier, in dem Teil der Gesellschaft, dem sich die besser Gebildeten gern zurechnen, das Ressentiment breit. In diese Situation hinein postulieren die Populisten, dass die Menschen angeblich genug von Fakten und Experten hätten. Da selbst Ärzten misstraut wird, brechen heute wieder die Masern aus, weil in dieser Gemengelage noch nicht einmal mehr Einigkeit über die Sinnhaftigkeit von Impfungen hergestellt werden kann.

Misstrauische Bürger

Verstärkt wurde dieser Prozess massiv durch die Finanzkrise des Jahres 2008. Diese Krise wird von den Betroffenen vor allem als eine moralische verstanden: Wieso werden die Banken gerettet, nicht aber die hunderttausenden Hausbesitzer, die von ihnen hinters Licht geführt wurden? Wieso werden Renten und Sozialleistungen gekürzt, aber keiner der Verantwortlichen dafür wandert ins Gefängnis? Barack Obama hat unzählige neue Jobs geschaffen nach der Krise. Das hat die Amerikaner aber nicht überzeugt, denn sie wollten neben den Jobs auch Fairness und Gerechtigkeit.

Ein neuer Gesellschaftsvertrag muss genau dem Rechnung tragen. Es geht um Fairness, Transparenz, Gerechtigkeit – und in der Folge Umverteilung. In der klassischen Arithmetik im linken Spektrum war die Umverteilung der Kern des Gerechten. Heute geht es zuerst einmal um ein faires System, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt und auf Grundlage dessen eine Verteilung der Güter, die von einer Gesellschaft erwirtschaftet werden, erlangt wird. James Fishkin, ebenfalls ein Stanford-Professor, hat das in seinen Versuchen zur "deliberativen Demokratie" nachgewiesen: Wenn heterogene Gemeinschaften eine Entscheidung zu treffen haben, kommt es darauf an, dass alle Interessengruppen fair vertreten und repräsentiert sind. Dann, so Fishkin, sind alle Beteiligten bereit, einen Konsens zu finden, auch wenn dieser Konsens einen Ausgleich und somit ein Weniger für den einen oder die andere bedeuten mag.

Das funktioniert aber nur in einem ressentimentfreien Umfeld. Und deshalb verwundert es überhaupt nicht, dass die Populisten, die sich gern "starke Männer" nennen, nichts hinbekommen, wenn es darum geht, Gesellschaft aufzubauen und Politik zu gestalten. Sie nutzen das Ressentiment, um Gruppen gegeneinander aufzuwiegeln, sodass diese beschäftigt sind und das mangelhafte Nichtregierungsverhalten nicht bemerken.

Das Heilmittel hier ist das Gegenteil des Vorurteils: die Empathie. Empathie bedeutet, dass man sich rational und emotional in den anderen hineinversetzt, um so ein Problem, eine Fragestellung von allen Seiten zu beleuchten und einer Antwort zuzuführen. Der neue Gesellschaftsvertrag muss hier ansetzen: auf Grundlage der Empathie auszuloten, was fair und gerecht ist. So werden soziale und Bürgerrechte wieder zusammengeführt, und die Demokratie wird gerettet. Es geht nicht um Daten, sondern um Menschen. Es geht nicht um künstliche Intelligenz, sondern um wirkliche, echte Menschen. (Alexander Görlach, 2.6.2019)