Eines gleich vorweg: Ich werde wiederkommen, denn Albanien ist super. Aus 1.000 Gründen: landschaftlich, historisch, klimatisch, wegen der Menschen – trotz aller Nebengeräusche. Doch wenn ich wiederkomme, werde ich auf dem Land laufen: Trail, querfeldein, auf Hirtenpfaden, in den Hügeln – weil das nämlich sehr wohl geht. Auch wenn unser Guide das Gegenteil behauptete – und es gut meinte: Laufen geht in jeder Landschaft. Immer. Aber man sollte Zeit haben. Nicht nur zum Laufen, sondern auch, um vorher kurz zu überlegen, wo und wie man rennt.

Foto: thomas rottenberg

Genau das geht halt auf einer kurzen Pressereise mit dichtem Programm nicht immer: Da bleibt im eineinhalbstündigen Slot zwischen "Rückkehr zum Hotel" und "Aufbruch zum Abendessen" oft gerade eine Stunde plus Duschen für das Sightjogging durch Saranda – oder albanisch Sarandë.

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Und auch wenn die 17.500-Einwohner-Gemeinde (Off-Season) am Südende des europäischen Armenhauses einmal eine schöne Stadt mit eigener Seele und eigenem Charakter gewesen sein muss, auch wenn der Lauf durch die alte Stadt, über die Strandpromenade und die noch immer pittoresken Treppen, vorbei an Hotelbauten und -skeletten und wilden Mülldeponien hinauf ins hügelige Suburbia faszinierend, fein und hochinteressant ist, ist eines klar: Überall anders im Umland wäre Laufen nicht nur spannend, sondern auch ein landschaftlicher Hochgenuss für alle Sinne. Oder Wandern.

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Aber man kann nicht alles haben: Es war eine Pressereise. Zweieinhalb Tage am Wochenende vor dem St. Pöltener Ironman.

Mit einem ganz klaren Thema: Billa-Reisen hatte eingeladen, die "Albanische Riviera" – also die Urlaubsregion rund um Saranda – kennenzulernen. Der Flug von Wien nach Korfu ist eineinhalb Stunden kurz. Das Schnellboot braucht von Griechenland dann 40 Minuten nach Albanien.

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Dann ist man schlagartig in einer anderen Welt. Auch preislich: Zielgruppe unserer Reise waren nicht Individualreisende oder Menschen, die im wilden Hinterland wandern, auf entrischen Campingplätzen abhängen, über de facto unerforschte Passstraßen Rad fahren oder in rudimentär ausgestatteten Hostels andere Backpacker kennenlernen wollen …

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…, sondern Familien, die einen schönen, aber vor allem leistbaren und unkomplizierten Urlaub suchen. Ich war im Auftrag des Tourismusfachmagazins "Tourist Austria international" mitgefahren – eines Branchenblattes, das "Normalos" nie in die Finger bekommen. So viel zu Setup und Setting.

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Saranda war auf diesem Trip lediglich Schlaf- und Unterkunftort. Das Programm war das Umland: Strände, antike Ruinen, Burgen, das Hinterland. Malerisch und ein Traum. Weltkulturerbe. Hier im Bild: die Ruinen von Butrint. Hochspannend.

Auch Saranda, ich sagte es schon, war wohl einmal schön. Doch Hafen und ein paar alte Gebäude erzählen diese Geschichte immer noch.

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Denn der Strand und seine Promenade liegen wie die Bühne eines Theaters zu Füßen der kleinen Stadt, die sich die Hügel hinaufzieht. Theater, erzählte uns der Guide, war auch das Thema, dem ein die Stadt im 19. Jahrhundert umplanender Architekt "Kaiser, er war ein Österreicher" (Google findet dazu aber leider nichts) gerecht werden wollte: Von der Promenade weg führen breite Freitreppen sternförmig in die Hänge hinauf – und verlieren sich dann irgendwo zwischen den Alt- und Nichtganzsoaltbauten.

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Läuft (oder spaziert) man unten mit Blick aufs Meer, ist hier alles fein. Nicht ganz so rausgeputzt, aber fast so wie in anderen Mittelmeerregionen und -städten: Der Blick in die Weite übers Meer kann was.

Die Lokale an der Promenade sind laut und grell. Die Menschen sind geschäftig und haben diesen mittlerweile geschulten Blick für das Geschäft mit den Gästen.

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Aber Albanien ist bettelarm. Immer noch. 250 Euro beträgt das durchschnittliche Monatseinkommen. Die Arbeitslosigkeit liegt – offiziell – bei 15 Prozent. Aber da sind Landbevölkerung und Frauen angeblich oft herausgerechnet. Und Saranda ist eines der ganz großen touristischen Zentren Albaniens: Im Sommer, in der Hauptsaison, verdrei- oder vervierfacht sich die Einwohnerzahl.

Weit mehr als 60 Prozent der Gäste hier und in der Region kommen aus dem Inland. Dass das und das erhoffte Mehr an Geld der – vergleichsweise – superreichen EU-Bürger da Goldgräberstimmung aufkommen lässt, kann man niemandem verdenken.

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Deshalb explodiert Saranda gerade – bautechnisch. Rund um die Stadt metastasieren Betonskelette und halbfertige Hotels. Obwohl der totale Wildwuchs und das Über-Nacht-Zubauen von jedem Flecken nicht abgezäunten öffentlichen Grundes angeblich eh schon wieder eingedämmt ist.

Wer es mit dem illegalen Hotelbauen allzu wild trieb oder treibt, dem sprengten oder sprengen Regierung, Kommune oder Verwaltung schon mal die Fundamente des Rohbaus an oder weg. Ein Akt der Selbstverteidigung gegen einen Traum von Wohlstand, den zu träumen man niemandem verbieten kann und darf.

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Dass hier jeder ein Stück jenes Kuchens will, mit dem Menschen wie Sie und ich so selbstverständlich aufgewachsen sind, ist mehr als legitim. Und dass Tourismus da ein guter Schuhlöffel ist, ist auch kein Geheimnis.

Wenn dann Mitteleuropäer, denen der Familienkluburlaub in Griechenland, der Türkei oder sonst wo nicht ganz so leicht ins Budget passt, die günstige Alternative auf der anderen Seite der Meerenge entdecken, wenn nach ein paar Dutzend Trendsettern die Scouts der großen Anbieter aufmerksam werden, wenn das erste Kreuzfahrtschiff im Hafen anlegt, beginnt sich ein Rad zu drehen.

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Je ärmer ein Land ist, umso schneller dreht sich diese Spirale. Entfernung oder schwer erreichbar zu sein kann da mitunter bremsend wirken.

Aber wenn man zusehen konnte, wie auf der anderen Seite einer kleinen Meerenge 50 Jahre lang griechisches Urlaubsflair Gäste glücklich machte und ganze Volkswirtschaften ernährte, während man selbst zwar die gleichen Voraussetzungen, aber davon so gar nichts hatte, ist klar und nachvollziehbar, was hier abgeht. In den Köpfen – und in der Entwicklung.

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Denn Saranda hatte es nie leicht – und eine superspannende Geschichte. Stadtmauerfundamente und die Grundmauern einer alten Synagoge datieren teils bis in die Spätantike zurück. Wie lebendig und entwickelt die Region gewesen sein muss, lässt sich wenige Kilometer weiter eindrucksvoll sehen: Butrint, heute ein Stück Unesco-Weltkulturerbe, kommt schon in Vergils "Aeneis" vor.

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Ihre Lage machte die Stadt über Jahrhunderte einerseits zu einem beliebten Ziel für Besatzer und Plünderer, war aber doch auch strategisch wichtig genug, um immer wieder neu aufgebaut und befestigt zu werden. Das ging so bis zum Zweiten Weltkrieg: Italiener, Griechen, Deutsche, Briten – alle kämpften hier. Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte die Stadt 1.500 Einwohner.

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Dann kam Enver Hoxha. Der kommunistische Diktator machte Saranda ab den 1950er-Jahren immerhin zum Tourismus-Hotspot seines Reiches. Daran änderte sich auch nichts, als Hoxha mit dem Warschauer Pakt brach – und sich und sein Volk in seinem absoluten und paranoiden Wahn im Wortsinn "einbunkerte": Saranda und seine Traumstrände im Umland waren der Ort, an dem Albaner Urlaub machten. Machen durften.

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Albanien ist das Land der Bunker. Rund 200.000 sind über das ganze Land verstreut. Das bizarre Erlebnis, überall auf aus dem Boden ragende Kleinfestungen (die heute vor allem als Ziegenställe dienen) zu stoßen, wäre an sich schon ein Grund, Albanien zu besuchen.

Bloß würde es der Schönheit von Landschaft und der Bandbreite der Geschichten nie und nimmer gerecht. Und das Lachen gefriert, wenn einem im Kaffeehaus dann erzählt wird, dass schon in der Grundschule das Schießen mit der AK-47 trainiert und benotet wurde: Waffenkunde zählte mehr als Schreiben und Lesen.

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Da muss man erst einmal rauskommen. Wirtschaftlich. Historisch. Mental. Emotional. Das dauert eine, zwei oder sogar drei Generationen. Der Blick auf und in fruchtbare Landschaften, die überall anders Garant für Wohlstand wären, führt da leicht in Verzweiflung. Frust. Resignation: Wieso hierbleiben und sich für nahezu Nichts abrackern, wenn Europa vor der Haustür liegt?

Wenn man im Ausland für dortige Verhältnisse gar nicht viel verdienen muss, um mit dem, was man dann monatlich heimüberweist, einen schnellen Aufbau von Strukturen ermöglichen kann, mit denen man rasch den Anschluss schaffen könnte. Und was geht schnell? Genau: Tourismus.

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Und so investiert jeder, der nur irgendwie kann, in Urlaubsimmobilien. Das Meer, der Strand, gehören da dazu. Anderswo ist die Küstenlinie oft ein Band öffentlichen, wenn auch noch so schmalen, aber eben doch Jedermensch-Grundes. Albanien aber ist wie der Wörthersee: Der Strand, der Zugang zum Meer, ist privatisiert. Zäune, Tore und Security-Kräfte inklusive: Den Spinner, der da den Strand entlanglaufen will, winkt man durch – er ist ja offensichtlich Westler und also reich.

Aber die Ressource Strand ist streng parzelliert. Aus der subjektiven Sicht des Augenblickes stimmt die Rechnung, die Kalkulation, ja auch. Die Zahl der Strandläufer dürfte einstellig sein – und bleiben. Die der "regulären" Gäste ganz und gar nicht.

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Nein, Saranda zu belaufen war kein wirkliches Herzaufmachvergnügen. Es war keiner dieser Läufe durch Gegenden und Regionen, in denen man emotional Luftsprünge macht. Kein Sitejogging, nach dem man mit 1.000 fantastischen Eindrücken ausgepowert und doch energiegeladen-freudestrahlend unter die Dusche oder ins Meer hüpft.

Trotzdem war der kurze Lauf gut. Lehrreich. Auf seine Art richtig großartig: Ich habe in dieser einen unruhig-zerfledderten Laufstunde durch eine so gar nicht aufs Laufen ausgerichtete Stadt mit Menschen, die einen Läufer so entgeistert ansehen, als wäre er eine entlaufene Giraffe, enorm viel gelernt. Einiges erkannt. Und noch mehr verstanden.

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Und ich habe mir selbst etwas versprochen: Ich werde wiederkommen. So bald wie möglich. Denn Albanien ist wunderschön. Verdient mehr als zwei Tage im Press-Trip-Stakkato. Ist voller Geschichte und Geschichten. Hat zum Heulen schöne Landschaften, die darum betteln, bewandert oder belaufen zu werden.

Hat eine Küche zum Niederknien. Hat Strände zum Für-immer-Dableiben. Buchten zum endlosen Hinausschwimmen, Schnorcheln und Tauchen.

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Aber vor allem wundervolle, herzliche, freundliche Menschen. Menschen, die den gleichen Traum von Wohlstand und Fortschritt träumen, den auch unsere Eltern und Großeltern geträumt haben – und die genau deshalb gerade dabei sind, keinen einzigen jener verheerenden Fehler auszulassen, die wir, unsere Eltern und Großeltern, genau deshalb auch gemacht haben.

Nur: Das werden weder ich noch Sie ihnen ausreden können. Mit welchem Recht auch? (Thomas Rottenberg, 5.6.2019)

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Reise nach und der Aufenthalt in Albanien war eine Einladung von Billa-Reisen.

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