Brigitte Bierlein ist Österreichs erste Bundeskanzlerin. Das ist nicht selbstverständlich. Frauen haben in der Politik einen Startnachteil – unabhängig von ihrer Qualifikation und Leistung.

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Im Gastkommentar erinnert die Wiener Soziologin Laura Wiesböck, dass Frauen in der Politik systematisch auf ihr Äußeres reduziert – und mitunter sogar herabgewürdigt werden.

Warum hatte Österreich noch nie eine gewählte Bundeskanzlerin? Wie kann es sein, dass FPÖ-Wähler vom Ibiza-Video mehrheitlich unerschüttert blieben? Ein Blick auf die Wirkungsmacht von Geschlecht ist hilfreich.

Was wir aus dem Ibiza-Skandal ziehen können, ist, dass eine übertriebene Männlichkeits-Performance kein Nachteil im Wahlkampf ist. Denn gewählt wird an vielen Stellen nicht, welche Partei die eigenen Interessen kompetent und vertrauenswürdig vertritt, sondern welche Art von Mann als symbolisches Oberhaupt der Nation sichtbar sein soll. Es geht weniger um staatstragende Fähigkeiten als vielmehr um den Wunsch nach einem "starken Mann", der sich "etwas traut". Ob dessen politische Überzeugungen kohärent oder die propagierten Ideen in der Praxis umsetzbar sind, spielt dabei eine nachgeordnete Rolle.

Erfolgsfaktor Männlichkeit

Das spiegelt sich auch in der Europawahl wider. Der Anteil an FPÖ-Wählern lag bei Männern mit niedriger formaler Bildung besonders hoch. Sie haben sich zu 37 Prozent für die Freiheitliche Partei ausgesprochen – trotz offengelegter Bereitschaft zur Korruption, trotz Umgehung der Gesetze zur Parteienfinanzierung und trotz der Übernahmepläne für die größten Tageszeitung Österreichs durch eine vermeintliche Russin.

Es ist jene abwärtsbewegliche Gruppe, die sich von der politischen Elite der großen Parteien ignoriert fühlt, in der der Zuspruch besonders groß war. Ihre Situation sieht insgesamt nicht rosig aus: Frauen überholen sie im Bereich Bildung, Jobs in ihren Branchen werden abgebaut oder ausgelagert, Gebildete sehen auf sie hinunter. Multikulturalismus und Feminismus stellen für sie eine Bedrohung dar, da damit ihr wahrgenommenes Recht auf eine Vormachtstellung und männliche Autorität gefährdet wird. Daraus kann die Befürchtung erwachsen, schwach zu wirken. Und diese Befürchtung prägt die politische Position mit.

Macht und Dominanz

Denn das Männerbild, das die FPÖ verkörpert, jenes der Macht und Dominanz, ist für viele Männer mit niedriger formaler Bildung im Alltag nicht aufrechtzuerhalten. Umso größer ist die Sehnsucht danach. Polemisch ausgedrückt: Da kommt ein "starker Mann" gelegen, der sagt, was sich sonst niemand traut, Dinge anpackt und die alten Zeiten wieder hochleben lässt. Es ist eine Sehnsucht, die sich auch in repräsentativen Umfragen widerspiegelt. In Österreich ist die Zustimmung zur Aussage "Man sollte einen starken Führer haben, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss" von zehn Prozent im Jahr 2007 auf 39 Prozent im Jahr 2015 angestiegen.

Während es für Politiker möglich ist nach einem historischen Skandal weiterhin Zuspruch zu erfahren, zeichnet sich für Politikerinnen ein komplett anderes Bild. Sie haben allein aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit einen Startnachteil, unabhängig von ihrer Qualifikation oder Leistung. Frauen in der Politik werden auf ihr Äußeres reduziert und herabgewürdigt. Und zwar systematisch.

Abwertung politischer Kandidatinnen

Medien stellen für Politikerinnen eine bedeutende Hürde dar, da sie über Frauen anders berichten als über Männer. Die Neos-Kandidatin Claudia Gamon wurde in einer "Krone"-Kolumne etwa als "Miss Neos", "Schöne Claudia" und "glattgesichtig-fesch" bezeichnet. Häufig werden öffentliche Auftritte von Frauen in der Politik modisch miteinander verglichen. Im Zuge der Europawahl verfasste orf.at ein Posting mit dem Titel "Zwei Welten, ein Dresscode: das Wahltagsoutfit von Karoline Edtstadler (ÖVP) und Pamela Rendi-Wagner (SPÖ) am 26. Mai 2019". Nach der Ernennung von Brigitte Bierlein zur Bundeskanzlerin musste man keine 24 Stunden warten, bis in der "Presse" ein Kommentar über ihre Kleidungswahl veröffentlicht wurde ("Stilkritik Brigitte Bierlein: Mit Jabot ins Kanzleramt").

Nicht nur Medien, sondern auch Politiker offenbaren regelmäßig ihre zutiefst sexistischen Einstellungen und Überzeugungen. So hat der österreichische Nationalratsabgeordnete Efgani Dönmez auf die Frage eines Twitter-Nutzers, wie die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD) zu ihrem Amt gekommen sei, geantwortet: "Schau dir mal ihre Knie an, vielleicht findest du da eine Antwort." Die Degradierung zum Sexualobjekt musste auch Jenna Behrends, eine junge CDU-Lokalpolitikerin aus Berlin, erfahren. Sie wurde von Frank Henkel, damals Innensenator und Landesverbandsvorsitzender, als "große süße Maus" bezeichnet. Zudem sei ihr unterstellt worden, sie wolle sich für den Sitz "hochschlafen".

Männlicher Machterhalt

Derartige Abwertungspraktiken zeigen sich nicht zuletzt in Form von Userbeiträgen in Social-Media-Kanälen. Ein Kommentar auf der Facebook-Seite der SPÖ-Politikerin Pamela Rendi-Wagner lautet etwa "Unbedingt Botox oder Hyoluron (sic!) unter die Fältchen zwischen den Augenbrauen spritzen, das macht den Blick weicher". Während die habilitierte Medizinerin aufgefordert wird, Nervengift in ihr Gesicht zu spritzen, wird die neue Bundeskanzlerin Bierlein in Onlineforen dafür kritisiert.

Es ist offensichtlich, dass die Bewertungskriterien in der Politik stark durch das Geschlecht beeinflusst werden. Männer müssen sich primär gegen ihre Konkurrenten durchsetzen, Frauen sind zusätzlich mit einer Vielzahl an abwertenden Zuschreibungen und Angriffen auf ihre Würde konfrontiert. Das hängt einerseits mit traditionellen Geschlechterrollenbildern zusammen, die Erwartungen an das Verhalten, die Kompetenzen und die äußerliche Erscheinung von Frauen formen. Dahinter liegt allerdings auch das strategische Interesse an männlichem Machterhalt.

Die US-amerikanische Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez, selbst betroffen von zahlreichen Diffamierungsversuchen, hat das so beschrieben: "The reason women are critiqued [...] is to belittle women out of standing up publicly. The goal is to 'critique' into submission. And that applies to anyone challenging power." Kritisieren bis zur Unterwerfung also.

Von Gleichberechtigung weit entfernt

Erst wenn Frauen in der Politik mit den gleichen Maßstäben bewertet werden wie Männer, erst wenn ihre Geschlechtszugehörigkeit nicht mehr zwangsläufig mit Objektifizierung und Herabwürdigungen einhergeht, erst dann ist Gleichberechtigung erreicht. Davon sind wir weit entfernt. Insgesamt ist es aber wichtig festzuhalten: In der Politik ging es immer auch um das Geschlecht. Die zunehmende Debatte um die Kandidatur von Frauen ist nicht für die zunehmende Gender-Relevanz ausschlaggebend, sondern macht vielmehr nur sichtbar, was immer schon da war. (Laura Wiesböck, 5.6.2019)