Jesus war eine Frau. Oder doch ein Mann? Kiki Smith im Wiener Belvedere

Foto: Kiki Smith/Belvedere

Die Jungfrau Maria blickt auf Jesus. Den Kopf gesenkt und mit offenen Handflächen steht sie da, nackt und schutzlos. Die Haut wurde ihr abgezogen, die Muskeln und Sehnen liegen frei. Auch ihr Gegenüber hat man so noch nicht gesehen. Der Gekreuzigte hat sich nach vorn fallen lassen, seine langen Haare reichen bis zu den Zehenspitzen (siehe Bild rechts). Oder ist dieser Gekreuzigte aus Papier gar eine Gekreuzigte?

Das Becken und die Figur lassen darauf schließen, die Geschlechtsmerkmale nicht. Die amerikanische Künstlerin Kiki Smith betreibt im Unteren Belvedere ein gefinkeltes Spiel mit Zuschreibungen und Andeutungen. Schon einmal hat sie in der Stadt ausgestellt, 1993 war das, zur Wiedereröffnung des Museums für angewandte Kunst unter der Direktion Peter Noevers. Der Direktor zeigte ihr damals den Narrenturm, die gehäutete Maria aus Bienenwachs war das Ergebnis. Jetzt ist Smith, die Anatomin und Alchemistin unter den Gegenwartskünstlerinnen, zurück. Nach München und Tampere macht die von Petra Giloy-Hirtz kuratierte Überblicksschau unter dem Titel Procession am Rennweg Station.

Andachtsraum mit Fragezeichen

Wobei das Wort "Prozession" etwas irreführend ist: Smith ausgestellter Kosmos aus nackten Leibern und toten Tieren, Körpersäften und Himmelskörpern ist genauso Andachtsraum wie große Infragestellung. Smiths Spiritualität durchweht die aneinandergefädelten Räume des Unteren Belvedere, gleichzeitig ist ihr Ringen um existenzielle Fragen evident. Religiös erzogen, hat Smith die Liebe der katholischen Kirche zur Figuration aufgesogen – und die Kindheitsgeschichten der Bibel um die Welt der Natur, der Mythologie und Kosmologie erweitert. Ihre Kunstwerke sind Statements – ohne dabei etwas Repräsentatives zu haben. Sie strahlen Ruhe aus – um dabei zutiefst zu verstören.

Ein Darm aus Bronze.
Foto: Kiki Smith/Belvedere

Die 1954 geborene Smith wuchs in New Jersey in einem Künstlerhaushalt auf. Ihr Vater, der Bildhauer Tony Smith, war ein Vertreter der Minimal Art, ihre Mutter, Jane, Opernsängerin. Tennessee Williams war Trauzeuge, Jackson Pollock ein guter Freund. Scharfe Kanten und harte Materialien prägten das Werk ihres Vaters. Übernommen hat Smith nur Letzteres. Neben Metall oder Glas spielen Wachs, Wolle und Papier eine große Rolle in ihrem Werk.

Aber fangen wir von vorn an: Die Ausstellung im Belvedere führt den Besucher lose chronologisch durch die Jahrzehnte von Kiki Smiths Schaffen. Mit abgetrennten Gliedmaßen fängt sie in den 1980ern an. Es ist die Zeit der Aidskrise, ihre Schwester wird in jungen Jahren daran sterben. Der glatten Darstellung gesunder Körper stellt Smith Deformationen gegenüber. Sie seziert Körper, trennt die Organe von den Gliedmaßen, stülpt das Innere nach außen. Aus Glas formt sie einen Magen, aus Bronze einen Darm, aus Reispapier Brüste. Es ist ein kühler Blick auf die Bestandteile des Menschen, fügt sie die Gliedmaßen aber zusammen, entstehen Kreaturen, die empathisch vom Menschsein und dessen Abgründen erzählen. In einem der kleineren Räume kauert ein von Bandagen umwickeltes Bronzemädchen, in einem anderen klebt kopfüber die alttestamentarische Lilith an der Wand. Sie war die erste Frau Adams und ihm gleichberechtigt. Als er Gehorsam einforderte, flog sie davon.

Einer von Kiki Smiths Wandteppichen.
Foto: Kiki Smith/Belvedere

Es sind solche Werke, die den Ruf von Smith als feministischer Künstlerin gefestigt haben. Mit dieser Zuschreibung sollte man aber vorsichtig sein. "Ich versuche als Bürgerin, eine Feministin zu sein", wird Smith im Ausstellungskatalog zitiert, "nicht aber in meiner Kunst, denn ich habe für meine Kunst weiter keinerlei Absicht, außer dass sie für mich einen tieferen Sinn haben sollte." Viele Kunstwerke weisen sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale auf, das Reh, das eine Frau gebiert, ist ein Bock, das Uro-Genital-System von Männern schmückt in grüner Bronze neben jenem von Frauen die Wand.

Ein eigenwilliger Kosmos

Smith zielt auf eine existenzielle Durchdringung von Mensch und Natur. Wobei Letztere in jüngerer Zeit immer stärker in den Vordergrund gerückt ist. Im eindrucksvollsten Raum der mit starken Räumen aufwartenden Ausstellung hängen zwölf Tapisserien an der Wand. Sie sind eine Auseinandersetzung mit den berühmten Apokalypse-Wandteppichen in Angers. Während auf den mittelalterlichen Tapisserien Feuer vom Himmel regnet und Dämonen mit Engeln kämpfen, streifen bei Smith Rehe durchs Schilf, hocken Eulen auf Zweigen und funkeln die Gestirne. Der Mensch fügt sich in diesen sinnlichen Gegenentwurf symbiotisch ein, gemeinsam mit Mythen und Märchen schafft Smith einen bezaubernd eigenwilligen Kosmos.

Starke Räume im Unteren Belvedere.
Foto: kiki

Dieser erzählt natürlich auch von den Gefahren, denen er ausgesetzt ist. Ein ganzes Dutzend toter Krähen liegt im vorletzten Raum auf dem Boden – Zeugnis einer realen Umweltkatastrophe, die sich 1995 in New Jersey ereignete. Eine Pestizidwolke führte damals zum Tod unzähliger Vögel.

Längst sind diese Abgründe aber in den Hintergrund von Smiths Werk gerückt. So wie im von Smith geliebten Mittelalter Menschen und Mythen eins waren, arbeitet die Künstlerin schon länger an einer Verschmelzung der Welten. Vom schonungslosen Blick ihrer Anfänge hat sie sich dabei verabschiedet. (Stephan Hilpold, 6.6.2019)