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Es ist derzeit kaum vorstellbar, dass Österreichs Regierung in Brüssel eine Persönlichkeit als Kommissaranwärter nennen kann, an dem die anderen 27 nicht vorbeikönnen.

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Bei wichtigen Zukunftsgesprächen der EU werden Österreichs Beamte nur wenig Gehör finden. Die Übergangsregierung sollte daher erfolgreiche Wirtschaftspolitik machen und ja keine Milchmädchenrechnungen anstellen, so der Ökonom Kurt Bayer im Gastkommentar.

Eines der Opfer der Turbulenzen der Regierung Sebastian Kurz ist die Wirtschaftspolitik: Zwar brüsten sich in Wahlreden der abgewählte Kanzler und sein Interimsvize und Finanzminister des "Endes der Schuldenpolitik" und des "Nulldefizits", ohne offenbar zu verstehen, dass dies keine Ziele einer an Mensch und Natur ausgerichteten Wirtschaftspolitik sein können, sondern bestenfalls Instrumente. Aber auch diese sind, ungeachtet ihres jahrelangen Hinausposauntwerdens durch die Europäische Union, falsch und vielfach kontraproduktiv.

Die Arbeitslosigkeit bleibt weiterhin hoch, die Armutsgefährdungsrate und die Zahl der tatsächlich Armen im viertreichsten Land der EU sind eine Verhöhnung der Armen und jener Beschäftigten, die seit vielen Jahren keine Nettolohnerhöhung erhalten haben – trotz Wirtschaftswachstums. Die Rate der Investitionen in Realkapital (Maschinen, Fahrzeuge, Gebäude und Ausrüstungen) bleibt niedrig, viele Unternehmen stecken ihre Gewinne eher in den ausbeuterischen Finanzsektor, der mit Staatsgarantien und Steuerzahlergeld vor seinen eigenen Aktivitäten immer wieder "gerettet" werden muss. Ein Armutszeugnis für eine angeblich ach so erfolgreiche Wirtschaftspolitik.

Dogma des Nulldefizits

Bundespräsident Alexander Van der Bellen verkündet, dass die neue Übergangsregierung keine neuen Initiativen setzen solle. Warum eigentlich nicht? Sie könnte mit einem erstarkten (?) Parlament endlich eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik machen. Dazu müsste sie sich vom Dogma des Nulldefizits lösen und dorthinein investieren, wo die Zukunftschancen der Menschen liegen; sie müsste die begonnene Steuerreform um eine gewichtige ökologische Ausrichtung anreichern, die Halbierung der Flugabgabe streichen, Kerosin besteuern und eine Methan- und/oder CO2-Steuer einführen. Damit könnte sie einen wichtigen Schritt auf dem Weg in eine Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen machen, statt in einer zahnlosen Klimastrategie nur einige teure Anreize für Unternehmen zu geben. Sie müsste die unteren Einkommen stärker entlasten und dies durch Erbschafts- und Vermögens- sowie Umweltsteuern (teilweise) gegenfinanzieren. Sie müsste mehr in Bildung, vor allem im Vorschul-, Primär- und Sekundärbereich, sowie in die Facharbeiterausbildung investieren, um der nächsten Generation flexibel Chancen zu eröffnen.

Glaubwürdigkeit verspielt

Auf EU-Ebene müsste sie das Schweigen der Regierung Kurz bezüglich einer Reform der nicht funktionierenden Eurozone beenden und nach einer offenen Diskussion in Österreich die auf dem Tisch liegenden Vorschläge von Präsident Emmanuel Macron und anderen bewerten und sich aktiv einbringen. Nur zu sagen, wie bisher, man unterstütze Option vier von Jean-Claude Juncker, also die Rückführung vieler Aktivitäten in die Nationalstaaten und die Lösung der wirklich globalen Probleme auf EU-Ebene, ohne eine tiefere Debatte, was das im Einzelnen heißen soll, reicht nicht mehr.

Leider hat die Regierung Kurz viel Glaubwürdigkeit durch ihre Koalition mit der rechtsextremen FPÖ verspielt. Die Unsäglichkeiten des Ibiza-Videos haben Österreichs Glaubwürdigkeit nicht erhöht, im Gegenteil. Eine Beamteninterimsregierung wird bei den wichtigen Zukunftsgesprächen der EU nur wenig Gehör finden, noch dazu, wo der wichtigste Teil dieser Gespräche und Festlegungen nicht in offiziellen Sitzungen, sondern in den Gesprächen davor, dazwischen und danach stattfindet. Da sind die Beamten, so versiert sie sein mögen, nicht Gesprächspartner auf Augenhöhe.

Es ist derzeit kaum vorstellbar, dass Österreichs Regierung in Brüssel eine Persönlichkeit als Kommissaranwärter nennen kann, an dem die anderen 27 nicht vorbeikönnen: Erstens gibt es eine solche Person in Österreich mangels internationaler Organisationserfahrung nicht, zweitens siehe Interimsregierung. Österreich wird also wahrscheinlich ein Ressort zugewiesen bekommen, das "übrig bleibt", und muss dann eine oder zwei mögliche Anwärter nennen. Österreichs Standing wird dadurch nicht besser.

EU-Ambitionen aufgeben

Auch in der Frage des Kommissionspräsidenten oder der Kommissionspräsidentin kann Österreich nicht effektiv mitmischen. Kurz hat sich aus Parteiräson für Manfred Weber (EVP) ausgesprochen. Das könnte die neue Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein zwar ändern, aber auch ihr fehlt der gute Kontakt zu den anderen Regierungschefs.

Nolens volens sollte Österreich also seine Ambitionen – so es welche hat – auf EU-Ebene aufgeben, so bedauerlich das ist, und sich dem Vakuum der österreichischen Wirtschaftspolitik widmen. Hätte die neue Kanzlerin nur einen Wirtschaftspolitiker mit dem Finanzministerium betraut. Leider ist der letzte Finanzminister, der von Wirtschaftspolitik etwas verstanden hat, vor 24 Jahren aus dem Amt geschieden. Die seitherigen Amtsinhaber haben es eher mit dem sprichwörtlichen Milchmädchen beziehungsweise ihrem deutschen Pendant, der schwäbischen Hausfrau, gehalten, die ja, wie wir alle wissen, "nicht mehr ausgeben kann, als sie einnimmt". Von Kredit, von Investitionen, von Zukunftsorientierung keine Ahnung. (Kurt Bayer, 6.6.2019)