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Seit dem Jahr 2017 wurden in der Türkei 70.000 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung eröffnet.

Foto: REUTERS/Murad Sezer

"We miss Turkey" – Wir vermissen die Türkei. Das konnte man um den 29. April auf Social-Media-Plattformen wie Twitter und Instagram lesen.

Mit der Kampagne verschiedener NGOs war das Internetlexikon Wikipedia gemeint. An diesem Tag jährte sich die Sperrung der Website in der Türkei zum zweiten Mal. Die Ursache: Präsident Tayyip Erdoğan hatte von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales die Löschung kritischer Artikel gefordert, die nahelegten, dass die Türkei Terrororganisationen wie den IS mit Waffen unterstützt haben soll. Wales hatte entgegnet, dazu sei er gar nicht berechtigt. Seitdem ist die Seite innerhalb der Türkei, neben zahlreichen anderen regierungskritischen Websites, nicht mehr aufrufbar. Das könnte sich nun ändern. Zumindest verspricht das eine kürzlich vom Präsidenten angekündigte Justizreform, mit der Erdoğan vordergründig insbesondere die Meinungsfreiheit stärken will.

Insgesamt umfasst das am vergangenen Freitag vorgestellte Paket 356 Einzelmaßnahmen und klingt zunächst einmal sehr vielversprechend. So soll die Zahl der Häftlinge, die sich in Untersuchungshaft befinden, verringert werden. Gegen Folter soll härter vorgegangen werden, Richter nicht mehr gegen ihren Willen in entlegene Provinzen versetzt werden, Kurse in Sachen Menschenrechte für Mitglieder des Justizapparats organisiert werden. Ebenso sollen Blockaden von Websites auf ihre Notwendigkeit hin geprüft werden.

Reaktion auf Kritik aus EU

Die Regierung habe mehr als ein Jahr an dem Bericht gearbeitet und 20.000 Anwälte und Rechtsexperten befragt, erklärte Justizminister Abdullah Gül. Mit den Maßnahmen befinde sich die Türkei wieder in einer Linie mit den Anforderungen des EU-Beitrittsprozesses. Auch der Vorsitzende der Anwaltskammer, Metin Feyzioğlu, bestätigte das. So weit, so gut.

Es scheint, als reagiere Erdoğan nun auf den jüngsten Bericht der EU-Kommission, der der Türkei erhebliche rechtsstaatliche Mängel vorwirft. Der bescheinigt dem Land seit der Aufnahme von Beitrittsgesprächen im Jahr 2005 schwere Rückschritte hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und fundamentale Menschenrechte.

Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurden zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung verhaftet. 57.000 Menschen befinden sich demnach zurzeit ohne Anklage in Haft. Der Bericht der EU-Kommission spricht von "schweren Bedenken" hinsichtlich der Folter in Gefängnissen. Seit dem Jahr 2017 wurden allein 70.000 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung eröffnet – dafür genügte teils ein abfälliger Kommentar auf Twitter.

Veränderungen sind also bitter notwendig. Auch für Investoren und internationale Geldgeber ist Rechtsstaatlichkeit ein wichtiges Kriterium für Investitionssicherheit. Und doch geht das Paket am eigentlichen Problem vorbei. Denn tatsächlich garantiert die meisten dieser Punkte die türkische Verfassung ohnehin. Es hapert nur massiv an der Umsetzung.

Kritiker, etwa der Vorsitzende der Anwaltsvereinigung von Izmir, Ozkan Yücel, sagen deshalb: "Eine Justizreform wird nicht durch einen neuen Bericht auf den Weg gebracht. Sie geschieht durch die Umsetzung des Gesetzes." (Philipp Mattheis aus Istanbul, 6.6.2019)