Birgit Karle (50) ist Fachärztin für Handchirurgie sowie für plastische, ästhetische und rekonstruktive Chirurgie am Dermatologikum Wien.

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Nicht zu lange warten: Wer die OP lange aufschiebt, könnte dauerhafte Schäden davontragen.

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STANDARD: Wie macht sich ein Karpaltunnelsyndrom bemerkbar?

Karle: Viele Erwachsene haben eines, ohne es anfangs zu bemerken. Meist beginnt es damit, dass hauptsächlich nachts die Finger einschlafen. Es kommt zu einem unangenehmen Kribbeln in sämtlichen Fingern mit Ausnahme des kleinen Fingers. Bei weiterem Fortschreiten der Erkrankung können Taubheit der Finger und eine Lähmung des Daumenballenmuskels auftreten.

STANDARD: Was ist die Ursache dafür?

Karle: Der Mittelhandnerv verläuft im Bereich des Handgelenks durch einen Kanal, der von den Handwurzelknochen und einem straffen Band gebildet wird. In diesem Kanal liegen außerdem noch neun Sehnen. Wenn etwa die Sehnenscheiden anschwellen, kommt es zu einer Einengung des Nervs.

STANDARD: Und das verursacht Schmerzen?

Karle: Ja, denn Nerven geben nicht so einfach auf, wenn Druck auf sie ausgeübt wird oder sie nicht gut durchblutet sind. Das kennt man vom Zahnweh. Der Nerv gibt immer wieder Signale an das Gehirn weiter, die als Kribbeln oder Schmerzen empfunden werden.

STANDARD: Wie kommt es zur Schwellung der Sehnenscheiden?

Karle: Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen. Häufig tritt sie bei Rheuma- oder Gichtpatienten, bei Schilddrüsenerkrankungen oder nach einer starken Belastung der Hand auf. Aber auch andere Ursachen, wie etwa ein Ganglion im Verlauf des Karpalkanals oder ein schlecht verheilter Knochenbruch im Bereich des Handgelenks, können zu einer Enge im Karpalkanal führen. Auch in der Schwangerschaft wird oft vermehrt Flüssigkeit eingelagert, was zu einem Anschwellen der Sehnenscheiden führen kann.

STANDARD: Sind bestimmte Berufsgruppen oder Sportler vermehrt betroffen?

Karle: Ja, das Karpaltunnelsyndrom kommt vermehrt bei Patienten mit starker Belastung oder Druck im Bereich der Hohlhand vor, wie etwa bei Bauarbeitern, die mit Presslufthämmern arbeiten. Auch bei Mountainbikern gibt es diese typische Belastung. Wer generell viel mit den Händen arbeitet, sie stark belastet, etwa viel im Garten arbeitet, kann unter einem Karpaltunnelsyndrom leiden – muss aber nicht.

STANDARD: Wie verbreitet ist das Karpaltunnelsyndrom?

Karle: Das Karpaltunnelsyndrom ist das häufigste Nervenkompressionssyndrom. Etwa zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung sind betroffen, Frauen dreimal häufiger als Männer. Rund drei von 1.000 Menschen erkranken jährlich neu daran.

STANDARD: Tritt das Syndrom bei beiden Händen auf?

Karle: Bei rund der Hälfte der Patienten sind beide Hände betroffen. Manchmal besteht das Problem nur an der dominanten Hand, da hier die Belastung größer ist.

STANDARD: Wie wird therapiert?

Karle: Der erste Schritt ist eine konservative Therapie mit einer Nachtlagerungsschiene, die das Handgelenk in einer neutralen Stellung hält. In dieser Position ist die Weite des Karpaltunnels am größten. Diese Schiene sollte zumindest sechs Wochen lang getragen werden. Das gibt oft eine erste Erleichterung für den Patienten, es kommt zu einem Abschwellen der Sehnenscheiden, und der Nerv wird entlastet.

STANDARD: Und das hilft immer?

Karle: Nein, nur wenn die Ursache eine vorübergehende Belastung war. Bei vielen Patienten ist die konservative Therapie nicht ausreichend, und die Beschwerden kommen nach einer Zeit wieder.

STANDARD: Und was passiert dann?

Karle: Patienten mit nächtlichem Kribbeln und Schmerzen sollten frühzeitig zum Arzt gehen. Dort wird die Nervenleitgeschwindigkeit gemessen und in manchen Fällen ein Ultraschall gemacht, um zu untersuchen, wie stark der Nerv eingeengt ist und was die Ursache dafür sein könnte. In rund zwei Drittel der Fälle ist dann eine Operation notwendig.

STANDARD: Wie läuft die OP ab?

Karle: Der Eingriff wird meist ambulant mit örtlicher Betäubung durchgeführt. Der knöcherne Boden des Kanals liegt auf der Seite des Handrückens, ein dickes Bindegewebsband auf der Seite der Hohlhand auf Höhe des Handgelenks. Bei der OP wird dieses Band, das über dem Kanal verläuft, mithilfe eines kleinen, etwa ein bis zwei Zentimeter langen Schnitts gespalten. Manchmal ist noch ein zusätzlicher kleiner Schnitt auf der Höhe des Handgelenks notwendig, oder ein Teil wird entfernt, um eine Vernarbung zu verhindern. Durch den Eingriff wird der Karpalkanal entlastet und für den Nerv wieder mehr Platz geschaffen. Die reine Operationszeit beträgt 15 bis 20 Minuten. Die Kosten werden von den Krankenkassen übernommen.

STANDARD: Wie ist die Prognose nach der OP?

Karle: Die Prognose nach einer solchen Karpaldachspaltung ist sehr gut. Durch die Druckentlastung des Nervs sind die Patienten meist ab der ersten Nacht beschwerdefrei. Nach zwei Wochen werden die Fäden gezogen, und ab diesem Zeitpunkt ist die Hand im Alltag wieder voll einsetzbar. Der Eingriff sollte immer von einem erfahrenen Handchirurgen durchgeführt werden. Wichtig ist, dass frühzeitig operiert wird, damit der Nerv nicht schon bleibende Schäden hat.

STANDARD: Wann entstehen bleibende Schäden?

Karle: Bei dauerhaftem Druck auf den Nerv kann er irreversibel geschädigt werden. Davon sind oft ältere Patienten oder auch Diabetiker betroffen, die zu lange mit der Operation gewartet haben.

STANDARD: Was passiert genau, wenn nicht oder zu spät operiert wird?

Karle: Dann kann es zu einem bleibenden Taubheitsgefühl in den Fingern oder zu einer Muskellähmung kommen, denn der Mittelhandnerv versorgt unter anderem den Daumenballenmuskel, der dafür zuständig ist, dass man den Daumen zum kleinen Finger bewegen kann. Wenn man mit der OP zu lange wartet, schrumpft dieser Muskel und erholt sich meistens nicht mehr komplett. Deshalb ist Früherkennung beim Karpaltunnelsyndrom so wichtig. (Bernadette Redl, 9.6.2019)