Als Kriegsbeute von Agamemnon (Johan Leysen) ist Kassandra (Susana Abdul Majid) keine lange Zukunft beschieden: Theater, das via Video eine Verbindung zum realen Krieg herstellt.

Fred Debrock

Tribunale, Prozesse, Verbrecheranklage – der Schweizer Regisseur Milo Rau greift immer heiße Eisen an. Der Anspruch: Kunst muss direkt auf reale Gegebenheiten Einfluss nehmen. Rau langweilt der Stadttheaterbetrieb samt seiner Schwerfälligkeit und Selbstgenügsamkeit, weshalb er ihn, derzeit als Theaterleiter in Gent, verändern möchte. Den 42-Jährigen zieht es deshalb regelmäßig hinaus in riskante Weltgegenden.

Wiener Festwochen

Im vergangenen Winter erarbeitete Milo Rau mit einem flämisch-deutsch-irakischen Ensemble in der irakischen Stadt Mossul ein Stück, das für die Verwerfungen einer globalen Gesellschaft ein schockierendes Exempel abgibt. Ausgehend von Aischylos' Orestie entstand ein neues Stück, das den darin beschriebenen blutigen Teufelskreis der Rache auf die irakische Gegenwart bzw. den Umgang der Bevölkerung von Mossul mit den IS-Killern umlegt.

Rache oder Vergebung

Während in der Orestie die Göttin Athene Deus-ex-Machina-mäßig aus dem Tempel schreitet und die Erfindung der Demokratie verkündet (und damit auch den Freispruch des Mörders Orest), denkt die Mossuler Zivilbevölkerung nicht daran, den IS-Mördern ihrer Familienmitglieder und Freunde zu verzeihen. Am Ende gibt es ein Weder-noch: nicht töten, aber auch nicht vergeben. Die tragische Situation schlechthin.

Orest in Mossul koppelt simples Erzähltheater mit hochdramatischen Szenen, welche wiederum durch Filmbilder aus dem "authentischen" Irak beglaubigt werden – so gerinnt die Inszenierung vor allem zum Dokument einer geteilten Welt. Denn den irakischen Schauspielern bleibt als Studierenden das Touren durch Europa verwehrt – die Behörden "fürchten" Asylanträge. Der irakische Teil des Ensembles ist demnach bei der Wiener-Festwochen-Premiere in der Halle E des Museumsquartiers gänzlich auf das Videobild beschränkt.

Im Staub von Mossul

Mittels dieser Filmsequenzen im Staub von Mossul stellt Rau eine Verbindung von Bühne und realem Kriegsschauplatz der einstigen IS-Hochburg her: zerbombte Moscheen, Totenköpfe auf Schuttbergen. "Hier von diesem Dach wurden vor kurzem noch Homosexuelle in den Tod gestürzt", sagt einer. Sogleich bohrt Rau in der Wunde und macht aus den Gefährten Orestes und Pylades ein schwules Paar. Ein schwuler Kuss in der Halle E ist ein Klacks, in Mossul auf offener Straße bedeutet er Lebensgefahr: geteilte Welt.

Rau will damit nicht dem westlichen Liberalismus auf die Schulter klopfen, doch so ganz entkommt er dem Konflikt, den die Rolle des mit humanistischem Gepäck eingereisten Künstlers in sich birgt, nicht. Man kann auch die als Reenactment gezeigten Kopfschuss-Exekutionen als spekulativ einordnen.

Körperlicher Schmerz

Oder auch die finale medizinische Operation (auf Video), der sich ein europäischer Schauspieler unterziehen möchte, weil er den körperlichen Schmerz nicht mehr erträgt, den er beim Anblick des nie enden wollenden Leids empfindet. Der Abend macht darüber hinaus vor allem eines: betroffen. (Margarete Affenzeller, 8.6.2019)