Die deutschen Grünen erzielten bei der Europawahl ein Rekordergebnis. In einer Umfrage überholten sie nun sogar die Union. Im Gastkommentar erläutert die Politikwissenschafterin Barbara Zehnpfennig, warum es die etablierten Parteien schwerer haben. Der Hype ums "Klima" ist für sie ein Indiz für die neue Schnelllebigkeit der politischen Themensetzungen.

Als Andrea Nahles, Parteichefin und Fraktionsvorsitzende der deutschen Sozialdemokraten, diese Woche ihren Rückzug verkündete, waren doch viele Genossen erschrocken. Zuvor hatte man mit einer gewissen Lust an der Zerstörung alles Mögliche getan, um Nahles zu demontieren. Man hatte ihre Auftritte als peinlich und ihre Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem Koalitionspartner CDU als unterentwickelt bezeichnet, man hatte Gegenkandidaten für die Wahl zum Parteivorsitz ins Spiel gebracht, von denen sich aber im Endeffekt niemand aus der Deckung wagte, man hatte ihre Autorität untergraben und ihr alle Fehler vorgerechnet, die sie in ihrem Amt begangen hatte.

Dass Nahles angesichts einer solchen Stimmungslage in der eigenen Partei zu dem Entschluss kam, lieber zu gehen, als sich von den Parteifreunden eine Wahlniederlage beibringen zu lassen, ist nur zu verständlich. Manche mögen nun triumphieren, aber viele sind wohl doch etwas entsetzt, was sie da in ihrem Furor angerichtet haben.

Selbstdemontage einer Partei

Denn diese Selbstdemontage unternimmt die SPD in einer Zeit, in der sie schlicht um ihr Überleben zu kämpfen hat. Das stolze Mutterschiff SPD, die deutsche Partei mit der längsten Geschichte und mit so beeindruckenden Führungspersönlichkeiten wie August Bebel, Friedrich Ebert und Willy Brandt, droht ihren Charakter als Volkspartei zu verlieren, sofern sie ihn überhaupt noch hat. Die Selbstverständlichkeit, mit der die deutsche Demokratie um eine politische Mitte kreiste, die wesentlich von einer konservativen und einer sozialdemokratischen Kraft bestimmt wurde, ist dahin.

Das wird schon am Anstieg der Zahl der Parteien sichtbar. Waren lange Zeit CDU, SPD und die liberale FDP die im Parteienwettbewerb zählenden Faktoren, so kamen in den Achtzigerjahren die Grünen, nach der Wiedervereinigung mit der DDR die linkspopulistische Linke und in den letzten Jahren die rechtspopulistische AfD hinzu. So wie sich die Gesellschaft zunehmend zu individualisieren und zu zersplittern scheint, differenziert sich auch das Parteiensystem aus.

Thunberg-Zöpfe sind auch in der Politik in.
Cartoon: Michael Murschetz

Simple Parolen

Darin kann man natürlich einen Prozess sehen, der schlicht gesellschaftliche Entwicklungen abbildet und insofern urdemokratisch ist. Zudem kann man die Neugründungen als Reaktionen auf aktuelle Probleme deuten, die die bestehenden Parteien nicht hinreichend wahrgenommen haben: die Umweltfrage als zentrales Anliegen der Grünen, die Repräsentanz (eines Teils) ostdeutscher Mentalität durch die Linke, die Unzufriedenheit mit dem Euro und einer ungesteuerten Zuwanderung als die Themen der AfD.

Doch mit Links- und Rechtspopulismus holt man sich Parteien ins Boot, die nicht nur die politischen Ränder stärken, sondern auch die Arbeit der etablierten Parteien desavouieren. Wenn man mit simplen Parolen, mit Emotionen und radikalen Forderungen Politik machen kann, wozu soll man sich dann auf die komplexen Problemlagen und mühsamen Aushandlungsprozesse einlassen, mit denen verantwortungsvolle Politik zu kämpfen hat? Die Populisten verderben die Preise. Sie beziehen ihre Attraktivität aus ihrer Ignoranz, zu der sie auch die Wähler ermutigen.

Geschwächte Mitte

So läuft den großen Volksparteien CDU und SPD das Publikum davon. Beiden wird auch vorgeworfen, dass sie zu ununterscheidbar geworden sind, wozu die Jahre in der großen Koalition sicher beigetragen haben. Hinzu kommt wohl, dass die von den Populisten behauptete Entfernung vom einfachen Volk, die bei langer Regierungstätigkeit einzutreten pflegt, bei den "Volks"-Parteien nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Das alles schwächt die politische Mitte. In Deutschland wurden aber nicht nur die Ränder gestärkt, sondern auch eine Partei, die tendenziell eher links, aber nicht dem radikalen Rand zuzurechnen ist: die Grünen. Diese Partei hat in der letzten Zeit ungeahnte Höhenflüge erlebt; bei der Europawahl erzielte sie 20,5 Prozent und wurde so zur zweitstärksten Kraft nach der CDU. Schon wird darüber spekuliert, ob sie bei der nächsten Bundestagswahl nicht die stärkste Partei werden und somit den Zugriff auf die Kanzlerschaft wagen könnte.

Was diesen "Hype" ausgelöst hat, ist nur zu vermuten, aber es spricht einiges dafür, dass es das Thema Klima war. Das wäre ein Indiz für die neue Schnelllebigkeit der politischen Themensetzungen und Wählerwanderungen.

Das "Klima" politisiert

Der aktuelle Kinderkreuzzug gegen die CO2-Emissionen, angeführt von Greta Thunberg, einem von Panikattacken gequälten, aber nichtsdestoweniger als ernsthafte Mahnerin im Hinblick auf die drohende Klimakatastrophe anerkannten Mädchen, hat viele junge Leute politisiert. Und es sind überproportional junge Leute, die den Grünen zuströmen. Trendverstärkend wirken die sozialen Medien, deren Bedeutung von den etablierten Parteien sträflich unterschätzt wurde.

So wird die Lage immer unüberschaubarer: Individualisierung und Partikularisierung lassen keine gefestigten Milieus mehr entstehen, aus denen sich die Stammwählerschaft von Parteien rekrutieren ließe. Dafür gibt es aktuelle und kurzlebige Zusammenballungen von Wählergruppen, die sich themenorientiert finden, aber vielleicht auch bald wieder in verschiedene Richtungen auseinanderstreben. Die Dinge sind unberechenbar geworden.

Aber vielleicht hat man sich, vielleicht haben wir alle uns auch zu sehr auf dem Erreichten ausgeruht, als wäre die Demokratie ein Besitztum und nicht etwas, um das immer wieder neu gerungen werden muss. Insofern haben die aktuellen Veränderungen auch etwas Inspirierendes. (Barbara Zehnpfennig, 8.6.2019)