Tragisch–intensiver Gesang von der Vergänglichkeit: Cecilia Bartoli als Zauberin Alcina.

APA

Salzburg – "Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding", haucht die staunende Marschallin im Rosenkavalier. Vergänglichkeit und die uncharmante Häufung von Jahresringen nimmt sie schließlich aber würdevoll hin. Anders Alcina, gewohnt, das Arsenal ihrer Zauberkünste gegen die Tücken der Zeit in Einsatz zu bringen. Gern pflanzt sie Illusionen einer unvergänglichen Attraktivität in die Köpfe ihrer austauschbaren Adoranten, bevor sie die Erdenwürmer in Stein verwandelt.

Dekonstruiert und verwandelt hat Alcina nun aber Regisseur Damiano Michieletto – 's ist mal bei ihm so Sitte: Er ließ in Salzburg Verdis Falstaff im Altersheim von amourösen Abenteuern träumen und Puccinis Mimi in einer Studenten-WG zu Ende atmen. Und nun: Die krisengeschüttelte Zauberin, die bei den Pfingstfestspielen an der Vergänglichkeit leidet, wird Herrin einer scheinbar gastfreundlichen Bettenburg.

Alles Schimäre. Im Hotel zur "zauberhaften" Alcina herrschen Eifersucht, Spuk und Verzweiflung. Die Chefin sucht ihren Liebhaber Ruggiero an sich zu ketten, indem sie seinen Geist in Liebesnebel hüllt. Allerdings wird die Zaubervirtuosin in ein Duell mit Ruggieros Verlobter Bradamante (hervorragend: Kristina Hammarström) verstrickt, die sich als männlicher Gast einquartiert.

Dreimal inszeniert

Die Regie leistet bei diesem Verstelldichein elegante Arbeit; die psychologischen Belange werden differenziert und vielschichtig ausgeleuchtet. Ist auch bitter nötig. Bei der Fülle an (szenisch vor Redundanz und Einschlafstatik zu bewahrenden) Da-capo-Arien muss Michieletto den Barockschinken eigentlich dreimal inszenieren. Er tut es. Der Italiener modelliert die Wiederholungen der ariosen Gefühlsausbrüche abwechslungsreich und mit subtilem Bedacht auf die Interaktion der Figuren, die auch nonverbal choreografiert wird.

Dieser Zugang ist der Hauptschlüssel zum Gelingen des substanzvollen Abends. Im Hotel der Illusionen beleben allerdings auch filmische Elemente: Da blickt Alcina versteinert in ihr greises Spiegelbild, dort werden Naturgewalten entfesselt, um Bilderzauber herzustellen. Szenisch produktiv wirken auch jene simultanen pantomimischen Handlungen, die sich hinter einer durchsichtigen Wand abspielen, die auch als Spiegel fungiert.

Abseits der Konvention

Es sind dabei nicht nur die verschleierten Körperskulpturen und Szenen eines kollektiven Liebemachens zweckdienlich, wenn es darum geht, dem sehr langen Abend gefühlte Kurzweil zu verleihen. Auch die Ausgestaltung der Figuren – abseits jeglicher gestischen Konvention – zeugt von tiefer Einsicht in die inneren Konflikte der zusehends vergeblich zaubernden Hauptfigur und ihres geplagten Umfelds.

Philippe Jaroussky (als verhexter Ruggiero) singt impulsiv und evoziert in den Höhen Augenblicke delikater Klarheit. Darstellerisch reichen seine Kräfte nicht aus, um der Differenzierungskunst mancher Kollegen Adäquates entgegenzustellen. Sandrine Piau agiert als Morgana quirlig (vokal zusehends berückend schön). Sie umgarnt auch Oronte, den Christoph Strehl stimmlich zumeist sehr nobel gestaltet. Das hochkarätige Ensemble wird durch Alastair Miles (als Melisso) und Sängerknabe Sheen Park (als Oberto) abgerundet.

Eindringlich, innig

Die tragische Herrin der Trugbilder, Alcina, wird von Cecilia Bartoli impulsiv und innig als Frau dargestellt, die das Schwinden ihrer Kräfte und Reize in einem Akt der Selbstzerstörung befeuert. Ihre Illusionswelt fällt in sich zusammen, weg ist das Hotel: Das Schlussbild gerät zu einer Installation, in der die Figuren zwischen – um sie herumschwebenden – Scherben agieren.

Tolles Finalbild, tolles Orchester: Die Musiciens du Prince Monaco geben sich unter Gianluca Capuano wandlungsfähig. Wie eine unbarmherzig tickende Uhr tönen manche schnittig dargebotenen Akkorde; in der Alcina-Arie Ah! mio cor sind sie Symbole einer grausam dahinrasenden Zeit. Dann wieder wandeln sich die instrumentalen Kommentare zu federleichter Noblesse im Geiste Händel'scher Melancholie.

2020 wird es bei den Salzburger Pfingstfestspielen wohl heiterer zugehen: Bartoli, seit 2012 Chefin des Festivals, hat Gaetano Donizettis Don Pasquale angesetzt. Sie, die heuer wieder dezibelstark umjubelt wurde, wird die begehrte Norina sein.