Bessere Bleibechancen in Frankreich? Viele Schutzsuchende flüchten innerhalb der EU weiter.

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Aktiv und umtriebig sei er immer schon gewesen: Masoud S.*, knapp 30 Jahre alt, flüchtete 2015 aus Afghanistan nach Österreich. "Er knüpft leicht Kontakte und sammelt viele Referenzen", schildert der Flüchtlingshelfer Peter M.*, ein Pensionist aus Wien.

2015 und 2016, in den Monaten gespannten Wartens auf den Asylbescheid, lernte M. mit dem Flüchtling Deutsch. Die Antwort der Asylbehörde kam nach einem Dreivierteljahr: Antrag abgelehnt, Ausreisepflicht. "Die Anwältin, die ihn bei der Berufung vertrat, kostete 1000 Euro. Masoud hat das Geld bei seinen Bekannten gesammelt", sagt M.

Diesmal musste sich der Afghane fast zwei Jahre gedulden. "Er hatte durchaus Hoffnung. Die Richterin hatte, wie er sagte, menschlich auf ihn gewirkt", erinnert sich der Helfer. Das Urteil strafte die Zuversicht Lügen: Antrag abgelehnt, Ausreisepflicht, auch in zweiter Instanz.

Vor einer Rückkehr nach Afghanistan hat S. immense Angst. Es gebe dort keine Existenzgrundlage für ihn, sagte er. Auch fürchtet er eine Zwangsrekrutierung durch die Taliban. Für eine außer ordentliche Revision der Asylablehnung wiederum, eine Maßnahme mit wenig Aussicht auf Erfolg, verlangte die Anwältin 1800 Euro: "So viel konnte er nicht aufbringen", sagt M.

So zog S. seine Konsequenzen. Eines Tages im vergangenen Herbst, schildert der Helfer, habe er seinen Schützling nicht mehr erreichen können. Keine Spur von ihm in der Flüchtlingsunterkunft, keine Nachricht, nichts. So, als habe er sich in Luft aufgelöst.

Ohne gültige Reisepapiere

In Wirklichkeit hatte sich der junge Mann in einen Zug gesetzt und war 1000 Kilometer weit gefahren – ohne gültige Reisepapiere, aber problemlos über zwei Staatsgrenzen, bis nach Paris –, hatte dort auf der Straße einen Franzosen kennen gelernt, der ihn bei sich aufnahm, und hatte in Frankreich einen weiteren Asylantrag gestellt. "Irgendwann hat er sich wieder bei mir gemeldet. Da lebte er bereits in einem Asylquartier in der Pariser Banlieue – und lernte Französisch", sagt M.

Mit seiner Weiterflucht ist S. nicht allein. Immer mehr Afghanen, aber auch Flüchtlinge anderer Staatsangehörigkeit – meist alleinstehende junge Männer –, machen sich aus Österreich in Richtung Frankreich oder Portugal auf. Dort leben sie im Untergrund, in illegalen Zeltstädten, oder arbeiten schwarz. Oder aber sie stellen, wie Masoud S., einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz.

In Österreich tauchen viele nach rechtskräftig negativen Asylentscheidungen unter, andere schon früher, aus Furcht davor. Die vom ehemaligen Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) als Härteoffensive propagierten Abschiebungen und Fälle freiwilliger Rückkehr, in die Ausreisepflichtige meist mangels einer für sie besseren Lösung einwilligen, verbreiten in der afghanischen Community Panik.

Tatsächlich wurden laut Innenministerium von Jänner bis inklusive März 2019 72 afghanische Staatsbürger nach Kabul abgeschoben, 91 gingen freiwillig, 15 wurden im Rahmen einer Dublin-III-Rückschiebung in ein anderes EU-Land gebracht.

Dublin III regelt, dass ein Flüchtling in der EU nur einmal um Asyl ersuchen kann. Wird er in einem anderen Unionsland aufgegriffen, schickt man ihn in den Erstantragsstaat zurück. Auch Frankreich und Portugal tun das. Im Unterschied zu Österreich, Deutschland und Schweden führen sie aber keine Abschiebungen nach Afghanistan durch. Sie schätzen die dortige Lage als zu gefährlich ein.

Frankreich oder Portugal statt Kabul

Daher blieben Afghanen, die in anderen EU-Ländern vor einer Abschiebung nach Kabul standen, in Frankreich und Portugal bis vor kurzem von Dublin-Rücktransporten verschont. Aus Österreich nutzten in den vergangenen Jahren mehrere hundert Personen diese Chance. Das sagen Schätzungen von Unterstützern, denn statistische Aufzeichnungen dazu gibt es im Innenministerium nicht. Insgesamt sollen derzeit Tausende durch Europa weitergeflohene Afghanen und Afghaninnen in Frankreich und Portugal leben.

Dieser stille Exodus verweist auf ein EU-weit bestehendes Problem. Es betrifft nicht nur Afghanen, sondern zum Beispiel auch Tschetschenen, die ihr Erstfluchtland Polen zu Tausenden verließen und nach Westeuropa weiterreisten; viele von ihnen wurden wieder zurück geschoben: Was tun mit Schutzsuchenden, die abtauchen und die für einen Verbleib bereit sind, fast jedes Risiko auf sich zu nehmen?

Neue Kompromisslosigkeit

Die sich aktuell abzeichnende Antwort läuft auf eine verstärkte Kompromisslosigkeit hinaus. "Zuletzt wurden Afghanen laut Dublin III auch aus Frankreich und Portugal nach Österreich zurückgeschickt. Zum Teil wurden sie in den Flieger hineingezwungen", berichtet eine Flüchtlingshelferin* aus Niederösterreich. Sie betreut einen knapp 18-Jährigen nach seiner Rückkehr aus Paris in der Schubhaft in Wien.

Psychisch schwer angeschlagen sei dieser, schildert sie. Die mehrfache Entwurzelung – Flucht aus Afghanistan, Abtauchen aus Österreich, Zwangsrückkehr aus Frankreich – habe ihn in tiefe Resignation gestürzt. "Er isst nicht mehr, er schläft nicht mehr, er sagt, ihm sei alles egal." In Österreich habe der Bursch seinen Pflichtschulabschluss gemacht, auf Deutsch, sich später in Paris ums Französischlernen bemüht. Alles umsonst: "In meinen Augen ist das ein Martyrium", sagt die Frau.

Auch die Lage von Peter M.s Schützling Masoud S. spitzte sich zuletzt zu. Im April beschied ihm eine französische Asylrichterin, dass er laut Dublin III problemlos nach Österreich zurückkehren könne. Hier stünden ihm noch Rechtsmittel gegen die drohende Afghanistan-Abschiebung offen. Dass diese Mittel den Abtransport nur in wenigen Einzelfällen stoppen, ließ sie unbeachtet.

Gegen diesen Beschluss hat S. in Paris Berufung eingelegt. Diese hemmt die Rückschiebung nach Wien nicht. Täglich, so M., rechne der Afghane mit dem Auftauchen der Polizei in seiner Unterkunft. Der Französischunterricht sei ihm gestrichen worden, detto ein Großteil seines Taschengelds. "Ich bin nach Europa gekommen, um zu überleben. Ist das ein Verbrechen?", fragt er in einer E-Mail. (Irene Brickner, 10.6.2019)