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Parteichef Vince Cable freute sich über den Erfolg seiner Liberaldemokraten bei der EU-Wahl. Nun macht er den Weg für Jüngere frei.

Foto: REUTERS/Hannah Mckay

Der Engländer Martin Tod begann sein politisches Leben als Liberaler auf der Universität. Seit die altehrwürdige Partei vor mehr als 30 Jahren mit den Sozialdemokraten zu den Liberaldemokraten fusionierte, hat der Marketingexperte viele schwierige Phasen für die traditionell dritte Kraft der britischen Politik, im Volksmund Lib-Dems genannt, erlebt. Das liegt nicht zuletzt am Mehrheitswahlrecht: Es zielt auf klare Verhältnisse ab und bevorzugt die beiden großen Parteien, Labour und die derzeit regierenden Konservativen.

Der Brexit hat die Lage fundamental verändert. Weil die Konservativen unter der scheidenden Premierministerin Theresa May den EU-Austritt nicht zuwege gebracht haben und die Labour-Party einen Schlingerkurs fährt, gelten alte Loyalitäten kaum noch. Wie die neue Brexit-Party des Nationalpopulisten Nigel Farage, die dem chaotischen Austritt ("No Deal" ) das Wort redet, strotzen auch die proeuropäischen Lib-Dems vor Kraft. Ihr einfacher Slogan lautet: Stoppt den Brexit.

Konservative abgelöst

Wie gut das ankommt, hat Tod im lieblichen Städtchen Winchester, eine Stunde südwestlich von London gelegen, erlebt. Anfang Mai wurde der 54-Jährige nicht nur mit riesigem Abstand als Ratsmitglied bestätigt, seine Partei löste auch die Konservativen in der Stadtregierung ab. Bei der Europawahl drei Wochen später legten die Lib-Dems in der Region rund um London mehr als 17 Prozentpunkte zu und erreichten fast 26 Prozent. Das Gesamtergebnis für Großbritannien lautete 20,3 Prozent; statt einer einzigen Liberaldemokratin dürfen künftig somit gleich 16 Parteivertreter im Europaparlament mitreden. Tod selbst schrammte nur knapp an einem Ticket nach Brüssel vorbei.

Plötzlich genießen die Lib-Dems öffentliche Aufmerksamkeit, ja mehr als das. Bei einer Umfrage der Firma Yougov für die nächste Unterhauswahl lagen sie Ende Mai plötzlich mit 24 Prozent auf Platz eins vor Brexit (22), Labour (19) und den regierenden Tories (16). Dabei hat der amtierende Vorsitzende Vince Cable, 76, seinen Rücktritt eingereicht, um der jüngeren Generation – zur Wahl stehen Jo Swinson, 39, und Sir Ed Davey, 53 – Platz zu machen. Ob sich, wenn die Nachfolge geklärt ist, auf der Insel eine politische Revolution anbahnt?

Wie ernst man die liberale Konkurrenz neuerdings nimmt, verdeutlichte vergangenes Wochenende ein Angriff der grünen Kovorsitzenden Sian Berry. Die Lib-Dems gehörten doch auch zu den "alten Parteien", rief Berry ihren Parteitagsdelegierten zu und erinnerte an die Jahre von 2010 bis 2015. Als kleiner Koalitionspartner der Konservativen hätten sie die Austeritätspolitik zur Sanierung des Staatshaushalts mitgetragen und damit Schätzungen zufolge 130.000 Menschenleben auf dem Gewissen.

Steiler Aufstieg, tiefer Fall

Die Anschuldigung steht auf tönernen Füßen, rührt aber an eine schmerzhafte Wunde. Unter dem damaligen Vorsitzenden Nick Clegg erlebten die Lib-Dems 2010 einen gewaltigen Höhenflug, gewannen bei der Unterhauswahl 23 Prozent der Stimmen und holten 57 Unterhausmandate. Vom Tory-Chef David Cameron für die erste Koalition seit 1945 gewonnen, fiel die total der Macht entwöhnte Partei der eigenen Naivität und der Vernichtungsstrategie der Konservativen zum Opfer. 2015 stürzten die Lib-Dems auf 7,9 Prozent und acht Mandate ab, die vorgezogene Wahl vor zwei Jahren brachte bei stagnierender Stimmenzahl immerhin vier zusätzliche Sitze, was dem britischen Mehrheitswahlrecht geschuldet ist.

Inzwischen haben die Lib-Dems "ihre Strafe im Gefängnis der öffentlichen Meinung abgesessen", wie der Oxforder Politologe Stewart Wood formuliert. Ihr klarer Kurs in der Brexit-Frage, ihre Liberalität bei Bürgerrechten und Minderheitenfragen, ihr Bekenntnis zu Klima- und Umweltschutz gefällt vielen Briten, gerade in liberalen Kernregionen. Dazu gehört der erweiterte Speckgürtel von London, in dem auch Winchester liegt, ebenso wie der Großraum der nordenglischen Metropole Manchester sowie der sogenannte "keltische" Rand im Westen von England, Schottland und Wales.

Ob sich das gute Ergebnis bei Kommunal- und Europawahl aber auch in Unterhausmandate übersetzen lässt? Vorige Woche fiel die Yougov-Umfrage etwas weniger verheißungsvoll aus; doch immerhin lagen die Lib-Dems landesweit bei 20 Prozent und damit vor den Konservativen. Sollte das Brexit-Patt erneut zu vorgezogenen Wahlen führen, käme das der Partei sicher entgegen. Bis zum regulären Ende der Legislaturperiode 2022 hingegen ist der Weg noch weit. "Wir brauchen Zeit", gibt sich Martin Tod gelassen. "Jedenfalls sind wir endlich wieder relevant." (Sebastian Borger aus London, 12.6.2019)