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Residiert hier die Matriarchin des Mondes oder ein Rohstoffkartell? In der aktuellen SF ist alles möglich.
Illustration: Science Photo Library / picturedesk.com

Was tun nach einem unverhofften Welterfolg? Vor diesem Dilemma stand sowohl Frank Schätzing nach "Der Schwarm" als auch Andy Weir nach "Der Marsianer". Beide Autoren glaubten die Lösung auf dem Mond zu finden und ließen ihren Bestsellern Thriller mit dezentem Sachbucheinschlag folgen, die auf dem Erdtrabanten angesiedelt waren – Schätzing mit "Limit", Weir mit "Artemis".

Ein Zufall ist das nicht, denn im neuen Jahrtausend ist der Mond wieder sexy geworden – fast so sehr wie damals in den mondverrückten 1960ern. In der Zwischenzeit hatte das Thema jahrzehntelang unter ferner schwebten rangiert, in der realen Erforschung des Sonnensystems ebenso wie in der Science Fiction. Womit die SF einmal mehr zeigt, dass sie nie Prognosen für die Zukunft trifft, sondern nur das aufgreift, was gegenwärtig als Mem kursiert. Und dabei stets auf Impulse aus der Realität angewiesen ist.

Die bleierne Zeit

Ein solcher Impuls kam Anfang der 1970er-Jahre, als sich die Nixon-Administration für den Bau der Space-Shuttles entschied und weitere Flüge zum Mond oder gar zum Mars verwarf. Es war ein Paradigmenwechsel, weg vom Pioniergeist der 50er und 60er und hin zu einem routinemäßigen Pendelverkehr in den Orbit, der niemanden mehr so recht begeisterte.

US-Autor Dan Simmons ließ die bleierne Zeit der 80er – das einzige Jahrzehnt der Raumfahrtgeschichte, in dem nicht einmal eine Sonde zum Mond geschickt wurde – in seinem Roman "Monde" Revue passieren: "Der Weltraum, einst eine so furchterregende Herausforderung, dass Experten sich Sorgen gemacht hatten, selbst die jüngsten, kühnsten und stärksten Testpiloten der Nation würden sie nicht ertragen, war heute zur Domäne von Männern mit Lesebrillen und Prostataleiden geworden."

Eine Auswahl neuerer SF-Romane, die den Mond in den Mittelpunkt gerückt haben.
Fotos: Heyne, Kiepenheuer & Witsch, Bastei Lübbe, Saga Press, Tor Books

Die entscheidende Wende brachte ein Impuls drei Jahrzehnte später: Forscher veröffentlichten eine Studie mit dem Konzept, das für Fusionsreaktoren verwendbare Isotop Helium-3 auf dem Mond abzubauen. Die Idee war im Prinzip nicht neu, doch in den 2000ern entwickelte sie sich zum Mem. Wir finden es nicht nur bei Schätzing und Weir wieder, sondern in einer ganzen Reihe neuerer SF-Romane, darunter "Gunpowder Moon" von David Pedreira oder der "Luna"-Reihe von Ian McDonald.

Die Welle an Mond-Titeln passte zu einer neuen Strömung, die sich in den 2000er-Jahren in der SF-Literatur formierte: Die sogenannte "Mundane science fiction" verzichtet auf alles, was technologisch (noch) nicht umsetzbar oder zumindest wissenschaftlich nachweisbar ist – etwa überlichtschneller Raumflug, Reisen durch Wurmlöcher, aber auch Begegnungen mit Aliens. Diese Selbstbeschränkung rückt natürlich tatsächlich erreichbare Ziele wie den Mars oder eben den Mond wieder in den Mittelpunkt.

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Schichtarbeit ist auch auf dem Mond kein Vergnügen, wie Sam Rockwell in "Moon" feststellen musste.
Foto: AP Photo/Sony Pictures Classics, Mark Tille

Auch der SF-Film, der der SF-Literatur gedanklich meist einige Jahrzehnte hinterherhumpelt und an Titeln zu schwach bestückt ist, um so etwas wie einen Trend ablesen zu können, hat das Thema aufgegriffen – etwa Duncan Jones‘ "Moon". Und sogar die Mond-Nazis der SF-Komödie "Iron Sky" bauen Helium-3 ab.

Labor für gesellschaftliche Experimente

Ian McDonald darf für sich verbuchen, das Modethema am originellsten umgesetzt zu haben: Auf Basis des lunaren Rohstoffreichtums hat sich in "Luna" eine neue Feudalgesellschaft entwickelt – die perfekte Gelegenheit, klassische Science Fiction mit Mantel-und-Degen-Abenteuern und Intrigenspielen im Stil von "Game of Thrones" zu würzen.

Der arbeitende Teil der Bevölkerung lebt hier freilich nicht glamouröser als in den tendenziell multikulturellen Wildwest-Gesellschaften von Mondpionieren, wie sie Weir oder das Autorenduo Tom und Stephan Orgel in ihren Romanen zeichnen. Das deutsche Brüderpaar ist vergangenes Jahr mit "Terra" von der tendenziell einträglicheren Fantasy in die Science Fiction gewechselt: ein weiteres Zeichen dafür, dass der Mond trendet.

Noch ist kein Ende der Mond-Welle in Sicht. Bestsellerautor Kim Stanley Robinson, der in den 90ern die Trilogie "Roter Mars, "Grüner Mars", "Blauer Mars" veröffentlicht hatte, färbt in seinem aktuellen Roman den Mond (politisch) ein. Erscheinungstermin ist der 12. August.
Foto: Heyne

Als Projektionsfläche für gesellschaftliche Entwürfe ist der Mond in der aktuellen SF fast so wichtig wie als Rohstoffquelle. In John Kessels Roman "The Moon and the Other" wird er geradezu zum Labor: 27 Mondkolonien stehen hier für ebensoviele unterschiedliche Gesellschaftsformen, wobei der Fokus auf einer Kolonie mit Matriarchat liegt.

Die Rolle von Frauen hat auch Mary Robinette Kowal in ihrem Doppelroman "The Calculating Stars / The Fated Sky" hervorgehoben. Inspiriert vom Erfolg der Biografie "Hidden Figures" über die vergessenen afroamerikanischen Mathematikerinnen der Nasa, entwirft Kowal einen alternativen Geschichtsverlauf, in dem sich Frauen von Anfang an ihren Platz im Astronautikprogramm erkämpfen. Der Kreis zur Frühzeit des Weltraumzeitalters schließt sich damit, der verloren geglaubte Pioniergeist ist wieder da.

Wird sich der Mond rechnen?

Natürlich kann der Boom auch schnell wieder vorbei sein. "Die neue Rundschau" widmete ihre jüngste Ausgabe der Phantastik und ließ SF-Autor Andreas Eschbach die Frage beantworten, warum die Mondlandungen keinen vergleichbar nachhaltigen Umbruch gebracht haben wie die Entdeckung Amerikas: "Weil es dort nichts zu holen gibt."

Der aktuelle Rummel um das Mondlandungsjubiläum und die damit verbundene Nostalgiewelle werden bald wieder abgeklungen sein, dann braucht der Mond greifbare Attraktionen. Sollten die Träume von der Rohstoffgewinnung platzen, wird er genauso schnell aus dem Fokus geraten wie in den 70ern und seine Kreise wieder an der Peripherie ziehen – in der Wirklichkeit und in der Science Fiction. Aber uns bleibt immer der Mars. (Jürgen Doppler, 22. 6. 2019)