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Justizminister David Gauke muss sich einem Misstrauensvotum stellen.

Foto: REUTERS/Hannah Mckay

Wer wissen will, in welchem Zustand sich die konservative und unionistische Partei Großbritanniens, so ihr korrekter Name, derzeit befindet, sollte den Fall von Justizminister David Gauke studieren. Seit 2010 hat der gelernte Anwalt geräuschlos den Premierministern David Cameron und Theresa May gedient, zunächst in untergeordneten Rollen im Finanzministerium, zuletzt als Ressortchef für Arbeit und Soziales – und am Ende mit Zuständigkeit für die Justiz. Wann immer die Regierung kontroverse Maßnahmen zu verteidigen hatte, wurde der zuverlässige, abwägende, ein wenig langweilige Minister an die Medienfront geschickt. Und natürlich hat Gauke dreimal brav für das EU-Austrittspaket der scheidenden Premierministerin gestimmt.

Ende dieses Monats muss sich dieses Abziehbild eines konservativen Musterpolitikers im Ortsverein seines Wahlkreises im reichen Londoner Speckgürtel einem Misstrauensvotum stellen. Gauke habe sich der "absichtlichen Sabotage" am Brexit schuldig gemacht, behaupten die Aufständischen und begründen dies mit einem der dümmsten Sätze, die es in den vergangenen Jahren in ein Wahlprogramm geschafft haben. "No Deal ist besser als ein schlechter Deal" steht im zwei Jahre alten Tory-Manifest – notfalls sei es besser, die EU ohne Vereinbarung zu verlassen, als gar nicht.

Ideologische Reinheit

Die Austrittsentscheidung fiel 2016 nur mit knapper Mehrheit, vom No Deal sprachen damals nicht einmal die härtesten Brexiteers. Die Wähler haben dem Parteiprogramm 2017 eine Absage erteilt und den Konservativen die absolute Mehrheit im Unterhaus verweigert. Das Parlament will den No Deal nicht zulassen, bestärkt von Umfragen, die seit Monaten eine knappe Mehrheit für den EU-Verbleib melden. Selbst Theresa May ist längst von ihrem idiotischen Satz abgerückt. Alles egal. Dem Parteivolk geht ideologische Reinheit über jene Charaktereigenschaften, die man einstmals den britischen Tories zusprach: unbedingter Wille zur Macht, gepaart mit einem Instinkt für das Machbare und der blitzschnellen Bereitschaft, sich an veränderte Verhältnisse anzupassen.

Was Gauke bevorsteht, haben andere prominente Liberalkonservative bereits erlebt. Vielerorts berichten gemäßigte Abgeordnete, in ihren Ortsvereinen tummelten sich neuerdings frühere Sympathisanten der nationalpopulistischen Ukip-Partei, die den Brexit vorantrieb. Wie vor einigen Jahren bei Labour ist nun auch bei den Tories ein Radikalisierungsprozess im Gang.

Die Einlassungen der Bewerber um Mays Nachfolge bestätigen die Diagnose. Beim Brexit versprechen sie vage Neuverhandlungen und suggerieren, diesmal werde Brüssel ganz bestimmt einknicken. Ganz abgesehen von der Frage, ob den EU-Partnern ein wenig Kompromissbereitschaft nicht vielleicht gut anstünde – statt vom No Deal zu reden, sollten Boris Johnson und Co dem Parteivolk nüchtern die Wahrheit ins Gesicht sagen. Im besten Sinn "konservativ", also bewahrend, wäre es, einen weichen Brexit anzustreben. Wer den "unionistischen" Parteinamen ernst nimmt, muss schon mit Rücksicht auf Nordirland und Schottland einen Kompromiss anstreben.

Vorsichtige, abwägende Männer und Frauen wie Gauke haben seit Jahrhunderten die Regierungsfähigkeit der Tories verkörpert. Alles deutet darauf hin, dass die gar nicht mehr Konservativen stattdessen ihr Land einem gefährlichen Experiment an Radikalität ausliefern wollen. (Sebastian Borger, 13.6.2019)