Joschka Fischer fordert zwar von Bürgern "nicht den Verzicht", von deutschen Kanzlern aber den Willen, rechtzeitig abzutreten.

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Bregenz – Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat nach Ansicht von Ex-Außenminister Joschka Fischer den richtigen Zeitpunkt für ihren Rückzug verpasst. "Es liegt ein Fluch auf dem deutschen Kanzleramt. Keiner kann freiwillig aufhören. Das begann bei Konrad Adenauer, auch Angela Merkel scheint davon berührt zu sein", sagte Fischer den "Vorarlberger Nachrichten" vom Freitag.

Deutschland sieht der Architekt der früheren rot-grünen Bundesregierung (1998–2005) in einer "Übergangsphase", wobei den Grünen "das Drama der deutschen Sozialdemokratie" in die Karten spiele. "Die SPD war immer mehr als nur eine parlamentarische Partei, sie war die Garantin für die deutsche Demokratie. Daraus erwächst eine gewaltige Verantwortung für unsere Partei", sagte Fischer in Anspielung auf Umfragen, in denen die Grünen deutlich vor der SPD liegen.

"An der Schwelle des Aufbruchs"

Die EU steht laut Fischer "vor einer ganz großen Krise". "Die EU war immer ein krisengetriebenes Unternehmen, nie ein strategiegetriebenes." Sein Instinkt sage ihm, "dass sich Europa an der Schwelle des Aufbruchs befindet", so Fischer mit Verweis auf die hohe Beteiligung an der Europawahl. "Ich habe noch nie eine solche Mobilisierung für Europa erlebt. Die Herausforderung für die Parteien ist nun, etwas daraus zu machen."

Fischer zeigte sich besorgt über das Zurückfallen Europas hinter die USA und auch China bei technologischen Innovationen. "Was mich alarmiert, ist, dass die Entscheidungen in China stattfinden, während wir noch Diskussionen von vorgestern führen." China habe bereits vier vergleichbare Plattformen wie Silicon Valley, während es in Europa keine gebe. "Es ist die letzte Chance. Wenn wir diesmal abgehängt werden, bleiben wir abgehängt."

"Keine Aufforderung zu Verzicht"

Auch in der Klimapolitik setzt Fischer auf technische Lösungen und die Wirtschaft. Mobilität könne nämlich nicht ersetzt werden. "Die Grünen sind nicht gegen Mobilität, wir sind auch nicht naiv. Wir meinen nicht, dass wir das schaffen, was 2.000 Jahre Christentum nicht erreicht haben, nämlich die Aufforderung zum Verzicht."

Positiv äußerte sich Fischer über die von Greta Thunberg angeführten Jugendproteste für das Klima. "Ich verstehe die Kritik an den jungen Leuten nicht. Wenn sich die Jugend Gedanken über ihre Zukunft macht, darf sie das. Deswegen ist man ja auch jung! Das habe ich in dem Alter auch in Anspruch genommen. Was will man mit früh vergreisten Sechzehnjährigen?", sagte der Angehörige der 1968er-Generation. Auf die Frage, welche der damaligen Grundsätze er immer noch als gültig ansehe, nannte er das Eintreten für eine Gesellschaft, "in der Diskriminierung keinen Platz hat". "Ich halte nichts von der These, dass Mehrheit alles ist. Denn dann ist Minderheit nichts. Wir haben in Deutschland und Österreich gemeinsam erlebt, wohin das führt. Nie wieder darf ein Zustand eintreten, in dem Minderheit nichts ist." (APA, 14.6.2019)