Langsames Aneinanderrücken: Im letzten Teil von "Missing People" wandert man zu Holztischen (bei Barbetrieb), während auf den Wänden die Porträts der Beteiligten aufscheinen.

Foto: Wiener Festwochen

Die Party ist schon gelaufen. Auf dem Boden liegt Konfetti herum, auf den Tischen hocken noch ein paar halb ausgetrunkene Gläser, garniert von Brotstücken, in denen Tschicks ausgedämpft wurden. Für "Missing People", die letzte große Premiere der Wiener Festwochen, hat der ungarische Regisseur Béla Tarr die Winterreithalle im Museumsquartier ausgeräumt und in eine von Rotlicht umspielte Katerstimmung getaucht. Von den Gästen zeugen nur ein Haufen Kleider, Taschen und Einkaufswagen und einige verstreute Objekte.

Es dauert allerdings nicht lange, und die Abwesenden tauchen in Tarrs erster Theaterarbeit, einer Kombination aus räumlichen Tableaus und filmischer Installation, wieder auf. Ein durch Ungarns Premier Viktor Orbán erwirktes Gesetz, das Obdachlosen das Übernachten auf der Straße verbietet, war für den moralisch bekanntermaßen kompromisslosen Regisseur der Anlass, sich den Ärmsten unserer Gesellschaft anzunehmen. Eine Konfrontation mit dem nackten Leben, die Tarr schon in seinen Filmen immer radikaler gesucht hat, bis er dem Kino nach "Das Turiner Pferd" 2011 endgültig abschwor. Die Mittel, meinte er damals sinngemäß, seien ausgereizt.

Täglicher Daseinskampf Obdachloser

Für "Missing People" hat er sich ohne jedes Sicherheitsnetz eines Skripts dem täglichen Daseinskampf von Obdachlosen ausgesetzt – eine Erfahrung, die auch sein künstlerisches Selbstverständnis berührte, wie er erzählte. In der Halle kehrt er nun die gängige Alltagsperspektive um. Nicht länger können wir an ihnen vorbeisehen: Auf einer großen Leinwand, die sich phasenweise durch zwei weitere zum Triptychon erweitert, blicken die Nomaden unserer Städte nunmehr auf uns herab. Das Setting bleibt auch auf den Bewegtbildern die Winterreithalle. In einer Art zeitlichem Loop kehren wir an den Anfang des "Festes" zurück, von dem nur die Wirtschaft übrig blieb: Das Museumsquartier wurde zum Unterstandslosenquartier.

Die von Tarrs bewährtem Kameramann Fred Kelemen gedrehten Aufnahmen sind freilich hochstilisiert. Als sich die Tür das erste Mal im Nebel öffnet, schreiten die Obdachlosen, angeführt von einem Rollstuhlfahrer, wie ein Heer in die Halle ein, das aus einer verlorenen Schlacht zurückkehrt. Während die Kamera den Raum in der Breite öffnet, nehmen sie Aufstellung. Gesicht für Gesicht gleitet sie dann weiter an ihnen entlang und hält ihren Blicken stand – in den Augen meint man die Schatten von dem zu finden, was sie gesehen haben. Die minimalistische Musik, die nur wenige Akkorde wiederholt, verstärkt den meditativen Sog des Gezeigten.

Sakrale Momente

Tarrs Szenen zeigen die Menschen bei konkreten Betätigungen, doch ihre Gesten und Bewegungen wirken gravitätischer als im Alltag, so universell wie auf einer alten Leinwand. Dazwischen finden sich kleinere musikalische Einlagen, besonders wehmütig ist jene, in der man zu einem klagenden Schlager nur das sinnierende weißbärtige Gesicht eines Mannes sieht.

Das festliche Gelage bleibt ein singuläres Erlebnis. Es gibt kaum zeitsparende Schnitte, jede Handlung wird im Vollen ausgeschöpft: Ein Performer sprayt seinen Körper geduldig mit Farbe ein, ein Mann kleidet eine Puppe an, als wäre sie sein eigenes Kind. Eine Frau spricht ein Gebet.

An dieser Stelle wird das sakrale Moment an "Missing People" offenbar, das schon in der räumlichen Anordnung angedeutet war. Béla Tarrs Zugang ist einer der aufrichtigen Demut – da gibt es keinen doppelten Sinn zu entdecken, sondern nur die eigene Bereitschaft, sich aus seiner Blase ein Stück weit herauszuwagen, hin zu existenzieller Not. Das letzte Drittel des Abends öffnet die vierte Wand dann folgerichtig zu einer geselligeren Runde. Ein Festwochen-Finale, das noch einmal entschlossen Grenzen überwinden will. (Dominik Kamalzadeh, 14.6.2019)