Wer das gesamte Interview mit Christian Kern in der "Tiroler Tageszeitung" liest, wird dem Ex-Kanzler nicht unbedingt vorwerfen, dass es ihm nur darum ging, seiner Nachfolgerin das Leben schwerzumachen. Er erklärt, warum er die SPÖ abseits des Rechtsspektrums positionieren wollte, seine Strategie auf die "Van-der-Bellen-Koalition" abzielte und eine Sozialdemokratie, die sich als "Pensionssicherungsverein" versteht, aus seiner Sicht fehl am Platz ist. So weit, so nachvollziehbar die Analyse des vor einem halben Jahr in einem Anfall von Spontanität aus der Politik ausgeschiedenen Ex-SPÖ-Chefs.

Christian "95 Prozent der Politik besteht aus Inszenierung" Kern sollte aber natürlich auch wissen, dass in Wahlkampfzeiten jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird. Sein an Austria-Legende Toni Pfeffer angelehnter Sager "Hoch gewinnt die SPÖ das nimmer" liegt jetzt genau dort. Ebenso seine Kommentierung von Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda ("Rendi-Wagner hat ihn ausgewählt – damit ist er der Richtige"), die als spöttisch und zynisch wahrgenommen werden kann (oder muss).

Kern hat der neuen SPÖ-Chefin also einen Bärendienst erwiesen. Rendi-Wagner ließ die Öffentlichkeit zuletzt wissen, dass ihre Entscheidungen kritischer betrachtet werden, weil sie eine Frau ist. Da könnte etwas Wahres dran sein. Es könnte aber auch sein, dass die männlichen Genossen einfach ein übersteigertes Ego haben. (Günther Oswald, 16.6.2019)