Am 10. und 11. Mai fanden an der Wirtschaftsuniversität Wien zum siebten Mal die "Economic Development Days" statt. Zahlreiche Praktiker diverser Institutionen der Development-Community gaben Einblicke in ihre Arbeit. Natürlich wurde eine der Kernfragen der Entwicklungsökonomie aufgearbeitet: Reduziert Wirtschaftswachstum Armut?

Gerade in den letzten Jahren häuften sich die Befunde, dass die weltweite Armut rückläufig sei. So berichtete etwa im November 2016 DER STANDARD, dass in den letzten Jahrzehnten der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, von etwa 36 auf circa zehn Prozent gesunken sei. Diese Meldungen sind so weit erfreulich. Das Wirtschaftswachstum wirkt hinsichtlich "Inklusivität" und war in vielen – wenn auch bei weitem nicht in allen – Ländern "pro poor".

In der Entwicklungsökonomie wird Armutsreduktion üblicherweise auf dreierlei Art mit Wirtschaftswachstum in Verbindung gebracht. Zum einen kann das Wachstum so breit gestreut sein, dass alle Einkommensgruppen gleichermaßen davon profitieren. In diesem Fall hebt das Wachstum auch viele Arme über eine definierte Schwelle, sodass sie nicht mehr als arm bezeichnet werden. Dies trifft beispielsweise auf Indonesien im Zeitraum 2010 bis 2015 zu. Zum anderen kann das Wachstum aber auch sehr ungleich verteilt sein. In Burkina Faso etwa wuchs das Medianeinkommen der unteren 40 Prozent zwischen 2010 und 2015 doppelt so schnell wie das der Gesamtbevölkerung.

Hohe Armutszahlen trotz Wirtschaftswachstums

Es gibt noch einen dritten Faktor: die sogenannte Wachstumselastizität der Armutsreduktion. Das heißt: Wie stark Wachstum in Durchschnittseinkommen oder relativen Einkommen die Armut reduziert, hängt von der sogenannten "Tiefe" der Armut ab – sozusagen davon, wie weit entfernt die Armen von der Armutsschwelle sind. Einige Länder, die beträchtliches Wirtschaftswachstum aufgewiesen haben, zeigen weiterhin auch beharrlich hohe Armutszahlen.

In der Demokratischen Republik Kongo reduzieren etwa die labile Sicherheitslage und der Fokus auf Rohstoffexporte die Wachstumselastizität der Armutsreduktion. Hinzu kommen ungünstige demografische Entwicklungen (hohe Fertilitätsraten und eine starke ökonomische Abhängigkeit der jüngeren Bevölkerung), was ein relativ stärkeres Wachstum der unteren Einkommensschichten erschwert.

Auch lokale sozioökonomische und politische Institutionen stehen nicht immer mit den Zielen der Armutsbekämpfung im Einklang (z. B. Ausgrenzung von Minderheiten, Benachteiligung von Frauen und Kindern). Aus diesen Gründen stagniert die Armutsreduktion mitunter selbst bei starkem Wirtschaftswachstum.

Wo setzt man die Armutsschwelle an?

So weit, so gut. Eine grundsätzliche Frage in diesem Zusammenhang ist, ob der Armutsindikator richtig definiert ist. Die Weltbank definiert den in extremer Armut lebenden Anteil der Bevölkerung als jenen, der mit weniger als 1,90 US-Dollar (kaufkraftbereinigt, Basis 2011) pro Tag auskommen muss. Die Kritik liegt auf der Hand. Zwar kann man in manchen Entwicklungsländern davon (schlecht, aber dennoch) leben, in zahlreichen anderen jedoch nicht. Die Schwelle wurde zu Definitionszeiten in Bezug auf den Median der nationalen Armutsschwellen von Niedrigeinkommensländern entwickelt. Viele dieser Länder haben mittlerweile den Mitteleinkommensstatus erreicht. Für diese Ländergruppe ist die 1,90-US-Dollar-Armutsschwelle nicht mehr zeitgemäß.

Die Argumentation ist einfach: In Ländern mit höherem Durchschnittseinkommen braucht man mehr Einkommen, um die sozialen und ökonomischen Grundbedürfnisse befriedigen zu können. Hebt man den Schwellenwert auf 3,20 US-Dollar (was in etwa dem Median der Armutsschwellen von Niedrigmitteleinkommensländern entspricht), zeigt sich ein Rückgang der Armutsrate von 55 Prozent im Jahr 1990 auf 26 Prozent im Jahr 2015. Legt man die Schwelle noch höher – etwa auf 5,50 US-Dollar (gemäß Hochmitteleinkommensländern) –, zeigt sich ebenfalls ein Rückgang der Armutsrate, aber das Niveau bleibt hoch und der Rückgang ist deutlich weniger beeindruckend (1990: 67 Prozent, 2015: 46 Prozent).

Der intervallartigen Anhebung der Armutsschwelle liegen jedoch zwei grundlegende und augenscheinliche Probleme zugrunde: Zum ersten sind nur wenige Länder im Median einer Ländergruppe zu finden, zum zweiten ist die einkommensabhängige Einteilung in Ländergruppen vordergründig praktischer Natur und entbehrt jeglicher solider Basis. Vielmehr gibt es ein Kontinuum. Eine Alternative besteht in der Verwendung nationaler Armutsschwellen.

Unterschiedliche Berechnungsmodelle

So baut die EU-Statistik etwa auf dem Netto-Äquivalenzeinkommen auf. Das ist jenes Einkommen, das jedem Mitglied eines Haushalts zur Verfügung stünde, um den gleichen (äquivalenten) Lebensstandard zu ermöglichen, wie es ihn innerhalb der Haushaltsgemeinschaft hat – unter der Annahme, dass das Mitglied erwachsen sei und alleine lebe.

Die EU definiert Personen, die lediglich 60 Prozent des Medians des Netto-Äquivalenzeinkommens zur Verfügung haben, als armutsgefährdet und jene, die nur 50 Prozent zur Verfügung haben, als relativ einkommensarm. Global betrachtet schwanken diese Schwellenwerte allerdings über die Länder hinweg und richten sich nach dem Gutdünken nationaler Regierungen. Auch werden teilweise alternative Indikatoren herangezogen. Ugandas nationale Armutsschwelle basiert etwa auf einer täglichen Kalorienzufuhr von 3.000 kcal für einen Erwachsenen. Anders im benachbarten Kenia, wo ein Wert von 2.250 kcal herangezogen wird.

Die Verwendung nationaler Armutsschwellen verunmöglicht nicht nur die globale Vergleichbarkeit, auch die Probleme hinsichtlich der zeitlichen Vergleichbarkeit innerhalb eines Landes sind erheblich. In Vietnam beispielsweise verweilte die Armutsschwelle von 1993 bis 2007 bei etwa 2,00 US-Dollar (kaufkraftbereinigt, Basis 2011). Nachdem in diesem Zeitraum die Armutsrate von 60 Prozent auf knapp 15 Prozent gesunken war, wurde die Schwelle auf rund 3,50 US-Dollar (kaufkraftbereinigt, Basis 2011) angepasst. Mit einem Schlag sprang die gemessene Armut wieder auf über 20 Prozent.

Gesellschaftliche Armutsschwelle als Lösungsansatz

Genau diese Problematik wurde in einem kürzlich publizierten Weltbankbericht aufgegriffen, in dem ein neuer Indikator vorgeschlagen wird. Eine gesellschaftliche Armutsschwelle ("Societal Poverty Line") soll Abhilfe schaffen. Dieser Indikator versucht die ökonomischen und sozialen Grundbedürfnisse auf unterschiedlichen Einkommensniveaus abzubilden. Das soll nicht nur Armut besser messbar machen, sondern auch für internationale und intertemporale Vergleichbarkeit sorgen.

Der vorgeschlagene Indikator kombiniert Elemente beider Ansätze: der absoluten und der relativen Armutsmessung. In den ärmsten Ländern ist die gesellschaftliche Armutsschwelle ident mit der absoluten 1,90-US-Dollar-Schwelle. Mit dem Anstieg des Medianeinkommens verschiebt sich dann aber auch die Schwelle, und zwar genau um die Hälfte des Medianeinkommens. Dieser relative Teil der gesellschaftlichen Armutsschwelle bezieht sich auf nationale Armutslinien. In der Tat gibt es einen starken linearen Zusammenhang zwischen dem Medianeinkommen und national festgelegten Armutsschwellen (siehe Graphik 1).

Foto: Klaus Friesenbichler, Daniel Pajank

Was passiert mit der gesellschaftlichen Armutsschwelle, wenn ein Land reicher wird? Zunächst verharrt sie auf einem Basisniveau, dann steigt sie linear an. Das wirkt sich auf die Armutsraten aus. Mit zunehmendem Einkommen wird es schwieriger, Armut zu reduzieren. Der Anteil der Weltbevölkerung unter der Armutsschwelle ist zwar auch nach diesem neuen Indikator gefallen (von 45 auf 28 Prozent), aber bei weitem nicht so stark wie bei den bisher gebräuchlichen Indikatoren.

Neben der Veränderung ist natürlich das Niveau relevant. Der weltweite Anteil der in Armut lebenden Bevölkerung liegt beim "Societal Poverty Line"-Ansatz deutlich höher als nach der 1,90-US-Dollar-Schwelle, aber auch deutlich niedriger als beim 5,50-US-Dollar-Schwellenwert (siehe Tabelle 1). Das ergibt sich daraus, dass nun die Mehrzahl der Armen in Niedrigmitteleinkommensländern lebt.

Foto: Klaus Friesenbichler, Daniel Pajank

Und nun zur Frage, die im Titel dieses Beitrags gestellt wird:Ist die Reduktion der weltweiten Armut ein statistischer Messfehler? Zum Teil wohl ja. Die Berücksichtigung eines ausgewogenen Indikators zeigt zwar einen weltweiten Rückgang des Bevölkerungsanteils, der in Armut lebt. Dieser Rückgang fällt jedoch deutlich verhaltener aus, als die bisherigen Statistiken auf Basis herkömmlicher Indikatoren zeigen.

Besonders alarmierend: Die Anzahl der Menschen unter der gesellschaftlichen Armutsschwelle bleibt seit 25 Jahren quasi unverändert. Wirtschaftliches Wachstum – sofern vorhanden – schafft Spielraum zur Armutsreduktion, dieser wird aber offenbar nicht überall gleichermaßen genützt. (Klaus Friesenbichler, Daniel Pajank, 18.6.2019)