Wissen ist Macht, so bringt es ein altes Sprichwort auf den Punkt. Und wenn wir uns etwa in den Augustiner-Lesesaal, ins Haus-, Hof- und Staatsarchiv oder in das Weltmuseum hineinbegeben, ist es schwierig, anders zu denken. In der Vergangenheit wurde das Wissen von vielen als Schlüssel zur Staatskontrolle und Regierungsausübung betrachtet, und die Geschichte kennt unzählige Beispiele dafür, wie insbesondere die imperialen Staatsbildungen dieser Welt versuchten, durch Informationsanhäufungen die kulturellen Unterschiede zu verstehen. Von den nachrichtendienstlichen Sammlungen bis zur statistischen, ethnografischen und literarischen Produktion haben die Kolonialreiche durch Monopolisierung der Wissensproduktion und -zirkulation sich selbst und die Andersheit, insbesondere jene aus dem Orient, gestaltet. Dies lernen die Studierenden am Tag eins ihrer Geschichtskurse.

Mangelhaftes Wissen

Es gibt jedoch zunehmend Wissenschafter, die die Qualität all dieses Wissens bestreiten. In seinem neuesten Werk, das der Erforschung des britischen und französischen Imperialismus in der frühneuzeitlichen Levante gewidmet ist, erörtert Cornel Zwierlein etwa den Umstand, dass "die Imperien auf Ignoranz gebaut" sind, und mit diesem Ausdruck meint er "Unwissen" wie "gewollte Ignoranz". Es ist natürlich wahr, dass im Laufe des alten Regimes das westliche Wissen über das "Orientalische" offenkundig mangelhaft und durch eklatante Fehler und krasse Schwächen gekennzeichnet war. Und wenn wir dies in einem breiteren Zusammenhang des europäischen Kolonialismus in Asien betrachten, so stellen die Fälle Großbritanniens und Frankreichs kaum eine Ausnahme dar.

Das rezente Tour-de-force-Buch von Sanjay Subrahmanyam, "Europe’s India", hat einschlägig gezeigt, dass etwa das portugiesische Reich in seiner imperialen Expansion in Südasien blindlings vorwärts raste, jeweils nicht ohne eine gute Dosis von Improvisation. Ein letztes beredetes Beispiel, das unser durch bloßen Hausverstand gekennzeichnetes Herangehen zum Thema Wissen zu demontieren vermag, kommt von Ann Laura Stoler. In ihrer Arbeit "Along the Archival Grain" macht sie darauf aufmerksam, dass "die Kolonialstaaten an allererster Stelle informationshungrige Maschinen waren, in denen der Machtzuwachs eher von der massiven Anhäufung quantitativ zunehmenden Wissens als von dessen Qualität herrührte". Ebenso warnt sie uns davor, die Annahme als bare Münze zu nehmen, "dass die Kunst kolonialer Staatsführung von einer reduktionistischen Gleichung von Wissen mit Macht motiviert und betrieben wurde und dass die Kolonialstaaten beides gar sonderlich erstrebten".

Empathische Herangehensweise zu kulturellen Unterschieden

In diesem Sinne: Wissenserwerb ja, aber cui bono? Sobald wir einmal festgestellt haben, dass die Ausübung der Staatsmacht nicht vom Wissen abhängig ist oder zumindest nicht von dessen Qualität, gilt es nun zu erklären, wer überhaupt an der Anhäufung von all den Wissensmengen, die wir in überlieferten Archiven und Bibliotheken vorfinden, hätte interessiert sein können. Eine mögliche Annäherung an dieses Problem wird von der Beobachtung ausgehen, dass die Wissensakkumulation häufiger auf individuelle Initiativen als auf Staatsunternehmungen zurückzuführen ist. Hierbei können wir uns fragen, was die Treibkraft hinter der persönlichen Suche nach dem Wissen von und dem entsprechenden Interesse an anderen Kulturen gewesen ist.

Es gibt mehrere mögliche Antworten auf diese Frage. Diejenige aber, die ich hier untersuchen möchte, ist die Möglichkeit der "Empathie", der Einfühlung. Damit meine ich die Anerkennung der immanenten Bedeutung der intellektuellen Traditionen, die die westlichen Gelehrten in Asien fanden, auch wenn sie jenen aus ihrem eigenen "genuinen" Kulturkontext nicht gleich (oder nicht einmal entfernt ähnlich!) waren. Ein erstes Beispiel einer derartigen empathischen Herangehensweise zu den kulturellen Unterschieden liegt im Wissen über das Osmanische Reich, das vom Grafen Luigi Ferdinando Marsigli (1658–1730) en masse angesammelt wurde. Diese gigantische Gestalt frühmoderner Erudition hat wiederholt das Interesse der Historiker herangezogen, insbesondere wegen Marsiglis Engagement in den Verhandlungen zwischen dem Osmanischen und dem Habsburger Reich, die zum Abschluss des Vertrags von Karlowitz (1699) nach dem Großen Türkenkrieg geführt haben.

Luigi Ferdinando Marsigli und die Osmanen

Luigi Ferdinando Marsigli.
Foto: Wikimedia Commons

Luigi Ferdinando Marsigli, geboren in einer aristokratischen Familie aus Bologna, war erst einundzwanzig Jahre alt, als er 1679 eine Reise nach dem Osmanischen Reich unternahm. Aus dem Antrieb, mehr über den großen unbesiegbaren Feind des Christentums zu erfahren, brach er gemeinsam mit dem neuen Botschafter (Bailo) Pietro Civrani von Venedig aus nach Konstantinopel auf. Marsigli verbrachte elf Monate in der osmanischen Hauptstadt, in der er ein Informantennetzwerk zu gestalten vermochte, das sowohl venezianische Dragomane und örtliche Übersetzer (giovani di lingua) als auch osmanische Gelehrte umfasste, unter denen wir den künftigen Richter (kadi) des Bezirks Galata, Husayin Efendi, finden können. Diese und andere Persönlichkeiten halfen Marsigli, ein enzyklopädisch angelegtes Projekt bezüglich des Osmanischen Reichs wesentlich voranzutreiben, namentlich eine beispiellose Sammlung an Materialien (die meisten in italienischer Sprache abgefasst), die in der Universitätsbibliothek von Bologna aufbewahrt wird.

Marsiglis Begegnung mit den Osmanen war nicht nur friedlich und intellektuell. Nachdem er sich der Armee von Leopold I. von Habsburg angeschlossen hatte, wurde er kurz vor der Belagerung Wiens (1683) von den Pfeilen eines Tatarentrupps verletzt. Indem er vortäuschte, venezianischer Händler zu sein, schaffte er es, mit dem Leben davonzukommen, und wurde an Ahmed Pascha von Temesvar (Timişoara im heutigen Rumänien) verkauft. Als Sklave wurde er gezwungen, an der Belagerung Wiens teilzunehmen, doch verbrachte er die meiste Zeit in einem osmanischen Feldlager, um den Soldaten Kaffee zuzubereiten. Nach der Niederlage der Osmanen wurde er nach Buda abtransportiert, wo er von zwei Bosniern übernommen wurde, die auf Lösegeld trachteten.

Mehr als nur ein Diplomat und Feldherr

Alle schmutzigen Einzelheiten über seine Gefangenschaft unter den Osmanen lassen sich in einem Werk unter dem Titel "Ragguaglio della schiavitù" finden, das erst 1728 erschienen ist. Das Originalmanuskript seiner Erinnerungen wurde allerdings der notariell eingeschriebenen Gütermasse einer stattlichen Schenkung einverleibt, welche er in Bologna zugunsten der Ausstattung einer neuen Kapelle der Kirche Santa Maria Annunziata sowohl als Votivgabe als auch als Zeichen der Dankbarkeit über seine Befreiung gestiftet hat. Im Frühjahr von 1684 trat Marsigli seinen militärischen Dienst für Leopold I. erneut an und kämpfte für diesen bis zum Ende des Krieges gegen die Osmanen. Er nahm an verschiedenen Belagerungen teil, allen voran in Buda (1686), in Transsilvanien (1687) und in Belgrad (1688).

Marsigli war jedoch mehr als nur ein Diplomat und Feldherr. Er war ein Universalgelehrter, Sammler, Bibliophiler. Er erstellte ein massives Corpus von (sowohl publizierten als auch nichtpublizierten) Texten über eine schier unermessliche Themenanzahl: von der Beschreibung der Fauna und Flora des Donauraums bis zu einem Traktat über die Ströme des Bosporus, und von einer der ersten Studien zum Kaffee bis zu einer Untersuchung, die den Pilzen gewidmet war. Darüber hinaus war Marsigli ein echter Orientalist. Während der Belagerungen von Buda und Belgrad sammelte er eine beeindruckende Menge von Handschriften in arabischer, persischer, und osmanisch-türkischer Sprache, welche eine der reichhaltigsten Bibliotheken von Manuskripten aus dem Orient im frühneuzeitlichen Europa darstellten.

Der Orientalist

Für unsere Zwecke ist jedoch Marsiglis Persönlichkeit deshalb besonders bemerkenswert, weil er einer der wenigen Orientalisten seiner Zeit war, die den Willen und die Fähigkeit aufwiesen, die eigene Meinung über die Osmanen zu ändern. In einem Brief, den Marsigli aus Wien an den ehemaligen venezianischen Bailo in Konstantinopel, Giovanni Battista Donà, 1688 gesandt hatte, sprach der Aristokrat aus Bologna in hohen Tönen von der osmanischen Buchkultur. Gleichermaßen warnte Marsigli sein Adressat vor irreführenden europäischen Darstellungen, die "nie aufhörten, die Ignoranz der Türken zu überbetonen".

Dieser humanistische Zugang zur osmanischen Kultur ist um so bemerkenswerter, wenn man den Umstand in Betracht zieht, dass Marsigli dieses Schreiben erst fünf Jahre nach Ende seiner Gefangenschaft absandte. Und es gewinnt sogar mehr an Bedeutung, wenn man sich erinnert, das Ludovico Marracci seine lateinische Übersetzung des Korans in Padua 1698 veröffentlichte, also nur zehn Jahre später, und zwar aus diametral unterschiedlichen Beweggründen, nämlich den Islam als eine Trugreligion zu überführen.

Wenn wir durch die Sammlung Marsigli waten, finden wir, dass er eine enorme Anzahl von Übersetzungen aus dem osmanischen Türkisch ins Italienische in Auftrag gegeben hat: Kriegsverträge, Stammbäume der Khanen Krims, Steuererfassungskarten Ungarns, der Walachei und des gesamten Balkans sowie Gerichtsaufzeichnungen, um nur einige Dokumententypen zu nennen. Diese monumentale Materialsammlung spiegelt weniger eine herablassende Attitüde gegenüber einer Kultur wider, welche in der damaligen Zeit als minderwertig angesehen wurde, als einen einfühlsamen, emphatischen Versuch, die wahre Bedeutung der osmanischen Andersheit zu entwirren und zu erschließen. Auch wenn wir einräumen müssten, dass die Imperien in hohem Maße auf Ignoranz bauten, ließen sich einzelne Persönlichkeiten der jeweiligen Zeit durch ihre kulturellen Begegnungen überraschen und bewegen. (Paolo Sartori, 19.6.2019)