Ein ägyptischer Expräsident stirbt während eines der Prozesse, die ihm wegen seiner Amtsführung gemacht werden: Es ist nicht Hosni Mubarak, der Anfang Mai als freier Mann seinen 91. Geburtstag feierte, sondern Mohammed Morsi. Der 2012 durch echte kompetitive Wahlen zum Präsidenten avancierte und schon ein Jahr später gestürzte Muslimbruder hatte seit langem behauptet, dass die ägyptische Regierung ihn durch medizinische Unterversorgung umbringen wolle. Um den Tod des 67-Jährigen in einem Gerichtssaal in Kairo beginnen sich erste Mythen zu ranken. Er wurde bereits am Dienstag beigesetzt: Das ist zwar in der islamischen Welt so üblich, wird aber die Theorien anheizen.

Für Morsis Anhänger ist klar, dass es Mord – langsam oder schnell – war. Die Bewegung hat ihren Märtyrer. Auch Human Rights Watch berichtete über die unmenschlichen Haftbedingungen, unter denen Morsi mittlerweile fast sechs Jahre im Gefängnis saß. Auf die Diskrepanz im Umgang mit zwei gestürzten Präsidenten, Mubarak einerseits und Morsi andererseits, machen auch Analytiker aufmerksam, die ganz gewiss nicht mit den Muslimbrüdern sympathisieren. Und in Ägypten selbst haben auch viele ausgewiesene Bruderschaftsgegner die neue Unfreiheit unter dem Regime von Abdelfattah al-Sisi zu spüren bekommen: Das macht Morsi nicht besser, verändert aber die historische Perspektive.

Morsi, ursprünglich ein Maschinenbau-Professor, war 2012 aus der zweiten Reihe zum Präsidentschaftskandidaten aufgerückt. Zum Wahlsieg verhalf ihm, dass sein Gegner in der Stichwahl Ahmed Shafiq war, der letzte Premier Hosni Mubaraks: Nicht wenige wählten Morsi, weil sie eine Rückkehr des Ancien Régime befürchteten.

"Unabhängig" im Parlament

Aber natürlich genossen die Muslimbrüder, die nach dem Jahr 2000 als "Unabhängige" im Parlament gute – und nicht etwa nur islamistische – Oppositionsarbeit geleistet hatten, auch einen guten Ruf. Sie waren die Saubermänner. Die Bruderschaft sprang über Jahrzehnte karitativ ein, wo der Staat versagte. Und darüber hinaus hatte sie 2011/2012 sofort den Parteiapparat, um ihre Wähler zu mobilisieren.

Unter den Augen der Polizei wurde Mohammed Morsi am Tag nach seinem Tod auf diesem Friedhof in Kairo bestattet. Nur einige Familienangehörige durften dabei sein.
Foto: AFP/Desouki

Wäre Morsi ein kluger Politiker gewesen, hätte er seinen Wahlsieg anders gelesen: erreicht durch geborgte Stimmen, die auch nicht mehr so viele waren wie bei den Parlamentswahlen im Winter 2011/2012. Allein das Antreten der Muslimbrüder machte stutzig: Hatten sie doch nach dem Sturz Mubaraks gelobt, sich nicht um die Präsidentschaft bemühen zu wollen. Die Wahlerfolge lösten bei ihnen wohl so etwas wie einen Machtrausch aus: Die stets marginalisierten Islamisten sahen, dass sie alles gewinnen konnten – und wollten das dann auch.

Die Amtszeit Morsis war chaotisch und oft unprofessionell, viele seiner Entscheidungen, etwa Ernennungen, waren beängstigend. Sein Regierungsjahr war vom Ringen mit der stark von Mubarak-Männern geprägten Verfassungs- und Verwaltungsjustiz geprägt, die schon während der laufenden Präsidentschaftswahlen das 2011 gewählte Parlament aufgelöst hatte. Seine neue Verfassung drückte Morsi durch, indem er die Justiz mit einem Präsidentendekret knebelte.

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Mohammed Morsi im Gerichtssaal: Am Montag verstarb der 67-jährige Expräsident während eines Prozesses. Von den tausenden Muslimbrüdern in Haft war er der prominenteste.
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Und auf allen Ebenen in der ägyptischen Gesellschaft trumpften die plötzlich mächtigen Islamisten auf – zum großen Unbehagen ziviler Kräfte oder auch der Kopten, die später die Bewegung zur Absetzung Morsis stark unterstützten. Das berühmteste Beispiel dafür war der frühere IAEA-Generaldirektor Mohamed el-Ba radei, der nach dem Sturz Morsis Mitte Juli 2013 sogar Vizepräsident wurde – und sich nach dem von der Armee verübten Massaker an demonstrierenden Muslimbrüdern nur einen Monat später wieder entsetzt zurückzog.

Spekulationen über islamistische Wende

Abdelfattah al-Sisi war von Morsi im Sommer 2012 zum Armeechef und Verteidigungsminister berufen worden: Da auch er fromm und seine Frau Hijabträgerin ist, wurde sogar spekuliert, ob das nicht auch Teil einer islamistischen Wende sei. Sisi konnte bei seiner Machtergreifung im Sommer 2013 auf Saudi-Arabien und die große Abneigung der salafistischen Golfmonarchie gegen die Muslimbrüder zählen, die als revolutionäre republikanische Kraft wahrgenommen werden.

Westliche Staaten hatten vor Morsis Sturz zu vermitteln und ihn zu überreden versucht, in vorgezogene Präsidentenwahlen zu gehen. Morsi versäumte diese Chance eines geordneten Abgangs. Der Westen und insbesondere US-Präsident Barack Obama werden noch heute von vielen Ägyptern beschuldigt, mit den Muslimbrüdern gemeinsame Sache gemacht zu haben. (Gudrun Harrer, 18.6.2019)