Tayyip Erdoğan zeigt immer wieder das Rabia-Zeichen, hier auf der Istanbuler İstiklâl-Straße, 12. Mai 2019.

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Gnade wünsche er seinem "Bruder und Märtyrer". Das sagte der türkische Präsident Tayyip Erdoğan anlässlich des Todes des ägyptischen Ex-Präsidenten Morsi. Auch dessen Familie und dem ägyptischen Volk drückte er sein Beileid aus. "Unser Bruder saß für fünf Jahre im Gefängnis zusammen mit tausenden seiner Freunde." Es ist nicht zum ersten Mal, dass Erdoğan seine Nähe zu der islamischen Bruderschaft betont.

Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 16. Juli 2016 trat Erdoğan am Morgen vor seine Anhänger und streckte vier Finger der Hand in die Höhe, den Daumen eingeknickt. Das Rabia-Zeichen sollte an die Menschen erinnern, die 2013 auf dem Rabaa-Platz in Kairo starben. Damals räumte die Armee mit äußerster Brutalität ein Camp von Anhängern Morsis. 600 Menschen kamen dabei ums Leben. Da Rabaa auf Arabisch so ähnlich wie die Zahl "4" klingt, wurde die Geste zum Erkennungszeichen der Muslimbrüder.

Zusammenarbeit mit CIA und Mossad

Die Verbindungen der Türkei zur Muslimbruderschaft reichen bis in die Zeit des Kalten Krieges zurück. Damals arbeitete der türkische Geheimdienst MIT noch eng mit CIA und Mossad zusammen, um die Bewegung als Gegengewicht zu den Baath-Regimen in Syrien und kommunistischen Einflüssen aufzubauen. Mit Erdoğan aber wurde die Bewegung ein wichtiger Bestandteil der türkischen Politik. Die Verbindungen der AKP zur Bruderschaft in den arabischen Ländern wurden einem "Soft Power"-Instrument der türkischen Außenpolitik.

Um die Zeit des Arabischen Frühlings herum verfolgte der damalige Außenminister Ahmet Davutoğlu eine Politik, die es zum Ziel hatte, arabische Diktatoren durch Regierungen zu ersetzen, die der Muslimbruderschaft nahestehen. Von freien Wahlen erwartete man in Ankara, sie würden islamisch-konservative Parteien an die Macht bringen, die der AKP ideologisch nahestehen.

Wendepunkt Gezi-Proteste

Das änderte sich mit dem Sturz Morsis und den Gezi-Protesten in Istanbul. Darin sah Erdoğan einen Versuch der USA und anderer Geheimdienste, ihn loszuwerden. Als im Mai 2013 der Gezi-Park im Zentrum Istanbuls einem geplanten Einkaufszentrum hätte weichen sollen, gingen tausende Istanbuler auf die Straße. Der Protest weitete sich schnell aus. Bald ging es nicht mehr nur um das geplante Einkaufszentrum, sondern um die gesamte Politik Erdoğans, die viele liberale Istanbuler als schleichende Islamisierung empfanden.

Erdoğan glaubte damals, der Aufruhr sei vom Ausland geschürt und folge demselben Muster wie der in Kairo. Er ließ die Proteste damals mit unverhältnismäßiger Gewalt niederschlagen. Hubschrauber ließen Tränengasgranaten über Wohngebieten abwerfen. Über 13 Menschen starben. Als Morsi am 3. Juli 2013 durch einen Putsch des Militärs entmachtet wurde, fühlte Erdoğan sich bestätigt.

Türkei gewährte Muslimbrüdern Zuflucht

Heute allerdings ist die Türkei das einzige mehrheitlich muslimische Land, das der Bruderschaft noch wohlgesonnen ist. Sogar das Emirat Katar verwies 2014 alle Mitglieder des Landes. Schätzungen gehen davon aus, dass tausende von ihnen Zuflucht in der Türkei gefunden haben.

Als Gegner der Bruderschaft gelten vor allem Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – und mit ihnen US-Präsident Donald Trump. Der verkündete Anfang Mai, er wolle die Muslimbruderschaft auf die Liste terroristischer Vereinigungen setzen. (Philipp Mattheis aus Istanbul, 18.6.2019)