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Hatten Sie Lateinunterricht?

Foto: Ingo Wagner dpa/dpaweb

Nun ja, anders als bei lebenden Fremdsprachen, beispielsweise Französisch oder Spanisch, springt einem bei Latein oft zuerst ins Auge, dass diese Sprache heute von niemandem mehr gesprochen wird, zumindest nicht von klein auf. "Tote Sprache!" Wer seine Zeit dafür "opfert", Latein zu lernen, der kann einfach nicht normal sein! Fertig! Oder?

Difficile est saturam non scribere

Wer braucht denn schon Latein im 21. Jahrhundert? Diese Sprache ist einfach "out"! Fave(te) linguis! Ist Latein wirklich so unnötig? Nun ja, 60 Prozent aller englischen Wörter gehen auf lateinische Wurzeln zurück. Also wirklich so unbrauchbar? Nein! Man verbessert durch Latein nicht nur seine "English skills", vielmehr erleichtern Lateinkenntnisse auch das Erlernen aller romanischen Sprachen, darunter Französisch, Spanisch und Italienisch. Das erklärt sich vor allem dadurch, dass die romanischen Sprachen aus dem Lateinischen entstanden sind und deshalb immer noch große Ähnlichkeiten zur "Lingua Latina" aufweisen. So heißt "singen" auf Lateinisch "cantare", ebenso, variatio delectat, auf Italienisch "cantare", auf Spanisch "cantar" und auf Französisch "chanter".

Das ist ja alles schön und gut, aber ich werde Fremdsprachen ohnehin nie brauchen. Bringt mir diese "tote Sprache" auch etwas für mein Deutsch? Non est disputandum! Denn der Aspekt, dass der Wortschatz der Muttersprache aufgrund des Lateinunterrichts vergrößert werde, erweist sich nicht wirklich als "ad absurdum", und das insofern, als auch Fremdwörter im Deutschen, beispielsweise "bilateral" und "Rekonvaleszenz", für einen Lateiner überhaupt kein Problem darstellen! Darüber hinaus besteht für die Schülerinnen und Schüler beim Übersetzen ein dauernder Anreiz, nach passenden deutschen Formulierungen zu suchen. So kann das Ausdrucksvermögen in der eigenen Muttersprache trainiert und erheblich verbessert werden.

Ad "Nie wieder Fremdsprachen brauchen"

Nun ja, in Zeiten wie diesen, O tempora, o mores, wird die Fähigkeit, selbstständig und rasch weitere Fremdsprachen zu lernen, immer wichtiger werden. Dass Latein zu dieser Fähigkeit auch dann beitragen kann, wenn die weitere Sprache mit Latein nicht verwandt ist, leuchtet nicht sofort ein. Aber wer Latein lernt, wird in einer gewissen Form gezwungen, sich in ein verhältnismäßig reich gegliedertes grammatisches System einzuarbeiten.

Was daran vorteilhaft ist? Nun ja, zwar stöhnen darüber manche und ärgern sich auch, aber viele haben auch Freude daran, zu durchschauen, wie die "Lingua Latina" funktioniert und trainieren dabei ihren analytischen Blick für das Funktionieren von Sprache überhaupt.

Aber Latein ist so wahnsinnig schwierig. Es gibt doch eh das "Tela Totius Terrae". Nun ja, im Lateinunterricht sind einige Nüsse zu knacken, das stimmt schon. Dies stört manche sehr, weshalb es sicherlich kein guter Einfall wäre, alle mit Latein beglücken zu wollen. Aber ist es darum angebracht, alle vor Latein, dieser angeblich unzumutbaren Sprache, bewahren zu wollen?

Die geistigen Fähigkeiten, die vor allem im Kindesalter erwachen, bedürfen des Trainings, um sie bestmöglich zu entwickeln. Die Eigentümlichkeiten des Lateins, so zum Beispiel die ungewohnte Wortstellung, nötigen nämlich dazu, genau hinzuschauen, gründlich zu lernen und im Zuge des Übersetzens die eigenen Annahmen zu überprüfen und zu redigieren.

Indes versetzt die Begegnung mit Werken römischer Autoren die Schülerinnen und Schüler in eine Kultur, die unserer heutigen auf der einen Seite zwar gar nicht so unähnlich ist, aufgrund des zeitlichen Abstandes aber auch befremdlich wirkt. Diese bizarre und paradoxe Spannung zwischen Fremdheit und Verwandtschaft bietet die Möglichkeit, über die eigene Welt nachzudenken und gewisse Entwicklungen kritisch zu hinterfragen. Zu guter Letzt macht Latein einfach wahnsinnig viel Spaß! Lingua Latina non mortua, quin (sed) immortalis est! Vale Lingua Latina! (Nicolas Wschiansky, 25.6.2019)