Obdach- und Wohnungslosigkeit in Wien beenden? Eine "gar nicht visionäre" Idee, findet die Sozialorganisation Neunerhaus.

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Daniela Unterholzner und Elisabeth Hammer sind die Geschäftsführerinnen der Sozialorganisation Neunerhaus.

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Zuallererst eine eigene Wohnung. So lautet das Konzept, das dazu führen soll, dass Obdach- und Wohnungslosigkeit der Vergangenheit angehören oder zumindest drastisch reduziert werden. Das klingt simpel – und ist es auch, sagen Elisabeth Hammer und Daniela Unterholzner, Geschäftsführerinnen der Sozialorganisation Neunerhaus.

Die Idee firmiert international unter dem Schlagwort "Housing first" und kehrt Ansätze um, die lange als bewährt galten: erstens die Idee, stufenweise verschiedene Wohnformen von Notquartieren, betreutem Wohnen bis zu den eigenen vier Wänden durchlaufen zu müssen. Und zweitens die Vorstellung, dass Betroffene zuerst ihren Alltag samt geregeltem Arbeitsleben wieder in den Griff bekommen sollen, bevor sie eigenständig eine Wohnung beziehen. Vielmehr soll es umgekehrt funktionieren.

Vorbild Finnland

Wien mache vieles richtig, sagt Elisabeth Hammer. Der soziale Wohnbau würde zu Recht europaweit beneidet. Gleichzeitig sei aber noch Luft nach oben. Der Grund: Leistbares Wohnen ist für Personen, die wohnungslos wurden, oft nicht erreichbar. "Das, was jetzt unter Zugangskriterien firmiert, erleben wir zum Teil als Ausschlusskriterien", sagt Hammer. Um für eine Gemeindewohnung infrage zu kommen, müssen Interessierte einen zwei Jahre durchgängigen Hauptwohnsitz in Wien nachweisen können. Einen Wohnsitz anzumelden ist für Obdachlose zwar möglich, das Wissen darüber aber meist begrenzt.

Die Miete nicht mehr oder nur noch mit Schwierigkeiten verbunden bezahlen zu können, sei außerdem kein Randthema mehr, sagt Soziologin Laura Wiesböck. Dass dem so ist, sei auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zurückzuführen: "Die Statusrisiken werden stark individualisiert." Auf der einen Seite betreffe es die Veränderungen am Arbeitsmarkt, wo eine hohe Prekarisierung stattfinde. Auf der anderen Seite werde der Wohlfahrtsstaat zunehmend abgebaut. Und zusätzlich würden Familien nicht mehr die ökonomischen Sicherheiten von früher bieten. "Es findet eine starke Beschämung von Armut statt", sagt Wiesböck.

Das große Vorbild ist Finnland. Bereits in den Achtzigerjahren wurde dort der Paradigmenwechsel eingeleitet, den Unterholzner und Hammer nun auch in Wien verwirklicht sehen wollen: Eine flächendeckende Umsetzung von Housing first ist dort mittlerweile Realität. Ehemalige Notunterkünfte wurden umgebaut, zusätzlich wurden Wohnungen gekauft oder gebaut.

Kein Neuland für Wien

15.000 Euro würde sich der Staat nun pro früherem Obdachlosen sparen, sagte Juha Kaakinen, Leiter jener NGO, die Housing First in Finnland umsetzt, gegenüber der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit": Das liege an der gesunkenen Anzahl der von Obdachlosen verursachten medizinischen Notfällen, Polizeieinsätzen und den geringeren Kosten im Justizsystem. Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass es weniger Häuser gibt, die ausschließlich für Wohnungs- und Obdachlose gedacht sind.

"Etwa zwanzig Prozent befinden sich in Krisensituationen oder brauchen eine spezielle Betreuung", sagt Hammer. "Der Rest kann autonom in einer Wohnung wohnen." Es ist nicht so, dass man in Wien noch keine Erfahrung mit dem Konzept gemacht hat: Das vom Fonds Soziales Wien (FSW) geförderte Pilotprojekt wurde von 2012 bis 2017 von Neunerhaus durchgeführt, in dieser Zeit wurden 124 Mietverträge abgeschlossen. Und es hat gezeigt, dass die Bewohner daran nicht scheitern: Ende 2017 waren noch 111 Verträge aufrecht, es gab lediglich sieben Delogierungen.

Seither hat die Stadt den Ansatz ausgedehnt: 371 Betreuungsplätze in 169 Wohnungen werden derzeit vom FSW gefördert. Dazu kommen noch einmal etwa 1.000 Plätze in Projekten, die sich am Ansatz des Housing First orientieren; jene mit Betreuungsangeboten und jene mit mobiler Wohnbegleitung.

Wohnen als Menschenrecht

Mit etwa 20 Bauträgern arbeitet Neunerimmo, Tochtergesellschaft von Neunerhaus, aktuell zusammen. Sie vermittelt Wohnungen in normalen Wohnhäusern. Die Mietstabilität liegt bei 94 Prozent.

Dass die Klienten von Sozialarbeitern unterstützt werden, wird nicht an die große Glocke gehängt. So soll auch die soziale Inklusion funktionieren. Genau dieses System mit geringen Mieten und entsprechenden Zuschüssen würde auch in großem Stil funktionieren, glauben die Geschäftsführerinnen. Laut ihrer Rechnung brauche man 1.000 Wohnungen jährlich. Notwendig dafür wären entsprechende Widmungen und eine enge Zusammenarbeit zwischen Stadt, NGOs und Bauträgern.

Zumindest was die sogenannten "Anspruchsberechtigten" betrifft; also österreichische Staatsbürger und ihnen Gleichgestellte. Für andere brauche es in erster Linie EU-weite Lösungen, sagt Unterholzner. In den Wintermonaten haben alle Betroffenen durch das Winterpaket der Stadt Wien zwar Zugang zu Notschlafstellen, 1.400 Schlafplätze stellte man letzten Winter zur Verfügung. Fest stehe aber, dass Notquartiere das Menschenrecht auf Wohnen "sicher nicht" einlösen, sagt Hammer. "Es ist völlig absurd, dass Menschen irgendwo nächtigen und in der Früh wieder gehen müssen." (Vanessa Gaigg, 22.6.2019)