Das schwer zugängliche tibetische Hochplateau mit seinen spezifischen Kulturen und Sprachen war bereits im 19. Jahrhundert, spätestens jedoch seit dem britischen Tibet-Feldzug unter Francis Younghusband (1903–1904) im Fokus europäischer Forscher. Damals standen große Teile des tibetischen Hochlands unter der Herrschaft der im 17. Jahrhundert gegründeten Lhasa-Zentralregierung mit dem Dalai Lama an der Spitze.

Eine weitaus größere Ausdehnung hatte schon früher das tibetische Kaiserreich, das Anfang des 7. Jahrhunderts aus einem lokalen Königtum hervorging und bis in das 9. Jahrhundert bestand. Sein berühmtester Vertreter war der tsenpo ("Kaiser") Songtsen Gampo (circa 605 bis 649 u. Z.), in dessen Regierungszeit sich Tibet zu einem mächtigen, mit China konkurrierenden Seidenstraßenreich entwickelte. Auch die ersten dauerhaften Kontakte mit dem Buddhismus fielen in diese Zeit, jener Religion, die dann von einem späteren Kaiser Ende des 8. Jahrhunderts offiziell zur tibetischen Staatsreligion erklärt wurde.

Das Hügelgräbergebiet von Zentraltibet (roter Bereich).
Karte: G. Hazod

Songtsen Gampo und die anderen tibetischen Kaiser wurden in monumentalen, bis zu 130 Meter großen Erdhügelgräbern beerdigt, eine Bestattungsform, die seit den Skythen bei Herrscherfamilien im euroasiatischen Raum sehr verbreitet war. Wenig bekannt war bislang, dass in Tibet auch die aristokratischen Familien, welche die politische und militärische Elite stellten, in ähnlichen Grabmonumenten bestattet wurden. Auch für die unteren sozialen Schichten der zentraltibetischen Bevölkerung war in dieser Zeit die Beerdigung in (kleineren) Hügelgräbern offenbar eine bevorzugte Bestattungsform.

Ein noch weitgehend intaktes Elitegrab (Site Nr. 0143).
Foto: G. Hazod 2015

Eine große Bandbreite an Grabhügeln

Diesen bedeutenden Zeugnissen der vorbuddhistischen tibetischen Kultur widmet sich seit 2013 ein vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) gefördertes Forschungsprojekt, das unter der Leitung des Sozialanthropologen Guntram Hazod am Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt wird. Im Vordergrund des Projekts, das Ethnografie, Textstudium, Architektur, Archäologie und Archäoastronomie kombiniert, stand zunächst die Grundlagenforschung. Bislang wurden über 600 periphere (das heißt in den Distrikten außerhalb der königlichen Nekropole liegende) Hügelgräberfelder auf Satellitenfotos identifiziert und kartografiert.

Die Gräberorte liegen gewöhnlich in Talnischen oder auf Berghöhen am Rand der Siedlungen und des bebauten Landes. Die Ausmaße der Gräberfelder reichen von einigen wenigen bis zu hunderten Grabhügeln. Auch in der Größe unterscheiden sich die Gräber innerhalb eines Feldes zum Teil deutlich voneinander – von wenigen Metern Durchmesser bis hin zu gut 80 Meter großen Elitegräbern. Auffallend ist die Trapezform bei den größeren Grabhügeln, deren gemauerter Kern – mit einer oder mehreren Grabkammern – abschließend mit gestampfter Erde bedeckt wurde. Häufig verschmelzen diese Trapezhügel mit der umliegenden Bergkulisse und sind von weitem nur schwer zu erkennen.

Grafische Rekonstruktion eines zentraltibetischen Elitegräberfelds auf der Basis von Satellitenaufnahmen und Informationen vor Ort (Site Nr. 0112; die weißen Pfeile markieren die unterschiedlichen Ausrichtungen der Gräber).
Zeichnung: G. Hazod

Historische und moderne Grabräuber

Dutzende ausgesuchte Gräberfelder wurden bisher in mehreren Kampagnen dokumentiert und vermessen. Charakteristisch sind die Spuren historischer Beraubungen, bei denen die Grabräuber gezielt und vermutlich mit dem Wissen, wo und wie sie am besten zur Grabkammer vorstoßen können, vorgegangen sind, um die Grabbeigaben zu entwenden. An manchen Orten werden die Beraubungen bis heute fortgesetzt, indem die Einheimischen Steine aus den Gräbern holen, um sie für Haus- oder Dammbauten zu verwenden.

Es gibt auch systematische Zerstörungen, bei denen im Zuge größerer Bauprojekte ganze Gräberfelder geschleift werden. Manchmal sind die Zerstörungen für die Forschung sogar von Vorteil, da geöffnete Gräber gute Einblicke in den Aufbau der Grabkonstruktion gewähren. Besonders wenn der Raubbau von Steinen und Lehm nur in Teilen erfolgte, sind Grabkammern, Stützmauern und Stampflehmschichten gut erkennbar, und die Gräber können virtuell entsprechend rekonstruiert werden. Gleichzeitig finden die Forscher auch Gräber, die in ihrer Bausubstanz noch weitgehend intakt sind.

Moderne Grabräuber hinterließen eine mehrere Meter tiefe Öffnung, die Teile der Schacht- und Grabkammerkonstruktion freigibt (Site Nr. 0132).
Foto: H. Feiglstorfer 2014

Steinerne Grabwächter

Einige intakte Grabhügel werden bis heute genutzt, indem sie als Sitz einer lokalen Schutzgottheit verehrt werden und im Zentrum gemeinschaftlicher Feste stehen – eine Form von Kontinuität, die in der vergleichenden historischen Hügelgräberforschung einmalig ist. Gleichfalls in den Bereich späterer Nutzung fallen die spätere Übersiedelung von steinernen Grablöwen, die ursprünglich vermutlich besondere Elitegräber "bewachten", zu einem benachbarten Kloster, was zugleich auch ihre Rettung bedeutete. Mehrere spektakuläre Beispiele von solchen neu positionierten Figuren konnten von dem Projektteam erstmals dokumentiert werden, zuletzt während der Feldforschung 2019.

Dieser heute bei einem Kloster stehende Steinlöwe gehörte ursprünglich zu einem Paar von Wächterfiguren eines kaiserzeitlichen Elitegrabs (Site Nr. 0242).
Foto: G. Hazod 2019

Interdisziplinäre Forschungsfragen

Eine Besonderheit der tibetischen Hügelgräberforschung ist die Quellenlage, die durch einen reichen Bestand an schriftlichen Quellen in Verbindung mit den Informationen vor Ort und einer teilweise noch intakten Oraltradition ideale Voraussetzungen für die Erfassung der historischen Zusammenhänge rund um die Gräbererrichtung liefert. Die genauere historische (und wenn möglich familienspezifische) Identifizierung der peripheren Elitegräber bildet auch eine vorrangige Zielsetzung des Projekts. Diese ist gekoppelt mit Fragen, die sich unmittelbar aus den oberflächenarchäologischen Surveys ergeben – etwa Fragen in Zusammenhang mit der Bauweise, den verwendeten Materialien und nicht zuletzt mit der topografischen Position der Grabmonumente und ihrer spezifischen, möglicherweise himmlischen Orientierung. Hier besteht die besondere Herausforderung, inwiefern die Gegebenheiten vor Ort mit den in alten Texten angedeuteten vorbuddhistischen Vorstellungen des Paradieses in Einklang zu bringen sind.

Dokumentation und Vermessung von obertägig gefundenen Knochen (Site Nr. 0040).
Foto: T. Hazod 2019

Wichtig für das Projekt ist der regelmäßige Austausch mit den Archäologen und Historikern in Lhasa. Gegenwärtig wird versucht, die seit einigen Jahren unterbrochenen Abkommen zwischen Einrichtungen in Lhasa und in Wien wieder zu erneuern, etwas, das nicht zuletzt die Forschungen vor Ort enorm erleichtern und auch erweitern würde. (Martin Gamon, Guntram Hazod, Georg Zotti, 20.6.2019)