Demonstration gegen Rechtsextremismus, Berlin, 18. Juni 2019.

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Berlin – Die deutschen Behörden suchen im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke nach Komplizen des Hauptverdächtigen Stephan E. (45). Ein Zeuge gibt an, in der Tatnacht zwei Autos bemerkt haben, die in "aggressiver Manier" durch Lübckes Wohnort fuhren.

20 Minuten zuvor habe der Zeuge, ein ehemaliger Bundeswehrsoldat, einen Schuss gehört. Er habe, so der Zeuge, den Eindruck gehabt, als hätten sich die beiden Autofahrer verfahren. Eines der Fahrzeuge sei ein VW Caddy gewesen, wie ihn Stephan E. fuhr. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Verdächtigen fanden die Polizisten im CD-Fach eines Radios im Gäste-WC versteckt einen weiteren Autoschlüssel, der zu einem bisher nicht aufgetauchten Škoda gehört.

DNA-Spur führte zu Festnahme

Lübcke war in der Nacht auf den 2. Juni mit einer Schussverletzung am Kopf auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha entdeckt worden, wenig später war er gestorben. Stephan E. hatte auf dem Hemd, das Lübcke bei seinem Tod trug, eine DNA-Spur hinterlassen, die schließlich zu seiner Festnahme führte.

Der Hauptverdächtige hat ein langes Vorstrafenregister, war aber seit seiner letzten Verurteilung im April 2010 nicht mehr aufgefallen. Laut "Hessenschau" wurde mittlerweile sogar sein Akt gelöscht, obwohl der damalige hessische Innenminister Boris Rhein 2012 für alle Akten über Rechtsextremismus ein Löschmoratorium veranlasst hatte.

Bei der Auswertung des Mobiltelefons, das Stephan E. benutzte, fanden die Ermittler zahlreiche hetzerische Kommentare in sozialen Netzwerken, vor allem auf Youtube. 2018 soll er dort unter dem Alias "Game Over" unter anderem geschrieben haben: "Entweder diese Regierung dankt in kürze ab oder es wird Tote geben." Ein anderer Kommentar: "Schluss mit Reden es gibt tausend Gründe zu handeln und nur noch einen 'nichts' zu tun, Feigheit."

Der hessische Verfassungsschutz führte E. lange als "gewaltbereiten Rechtsextremisten". Ein verdeckter Ermittler gab zu Protokoll, dass er in der lokalen Neonazi-Szene als "NPD-Stephan" bekannt gewesen sei.

12.700 gewaltorientierte Rechtsextremisten

Laut Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang gehen die Behörden aktuell von 12.700 gewaltorientierten Rechtsextremisten in Deutschland aus.

Im November 1992 griff E. auf einer Toilette am Wiesbadener Hauptbahnhof einen ausländischen Mann an, weil er sich von dem Opfer "sexuell angemacht" fühlte. E. stach seinem Opfer mehrfach in den Rücken und in den Brustkorb. Der Mann überlebte schwer verletzt.

Rohrbombe detonierte nicht

Am 23. Dezember 1993 wollte der damals 20-Jährige einen Sprengstoffanschlag auf eine Asylunterkunft im hessischen Hohenstein-Steckenroth verüben. Bewohner der Container entdeckten ein brennendes Auto und konnten es löschen, bevor die Feuerwehr eintraf. Auf dem Rücksitz fand die Polizei eine Rohrbombe. E. wurde noch am selben Abend verhaftet.

Bereits damals sei E. der Polizei wegen "diverser anderer Straftaten mit rassistischem Hintergrund bekannt" gewesen, berichtete die Berliner "Tageszeitung" seinerzeit. Demnach gab er in einer ersten Vernehmung durch die Polizei nach dem Anschlagsversuch an, allein gehandelt zu haben. "Er habe erklärt, politisch nicht organisiert zu sein", berichtete die Zeitung.

Angriff mit selbstgebauter Waffe

In der Justizvollzugsanstalt, in der E. kurze Zeit später in Untersuchungshaft saß, sei er von anderen Mithäftlingen bedroht und beleidigt worden, sagte der Sprecher der Wiesbadener Staatsanwaltschaft. Im Jänner 1994 baute E. demnach eine Waffe aus Teilen eines Sessels sowie eines Kleiderbügels und griff einen Mithäftling an. Der Mann wurde verletzt. Wegen des Angriffs auf dem Bahnhof, des Anschlagsversuchs und der Verletzung des Mithäftlings wurde E. am 12. Juni 1995 vom Landgericht Wiesbaden zu sechs Jahren Jugendhaft ohne Bewährung verurteilt.

Angriff auf Gewerkschaftskundgebung

In den folgenden Jahren wurde es um E. ruhig – erst 2009 geriet er wieder in den Fokus der Justiz. Am 1. Mai war er an Ausschreitungen in Dortmund beteiligt, bei denen rund 400 Neonazis eine Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbunds attackierten.

Der Angriff auf die DGB-Demo.
noblood4nations

Im April 2010 wurde E. in Dortmund unter anderem wegen Landfriedensbruchs und versuchter gefährlicher Körperverletzung zu sieben Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

Medienberichten zufolge soll er Kontakte zur rechtsextremistischen Gruppe Combat 18 gehabt haben. Zudem soll er Mitglied eines Schützenvereins im Landkreis Kassel gewesen sein, jedoch ohne einen Zugriff auf Schusswaffen zu haben. Seit 2009 sei E. jedoch nicht mehr rechtsextremistisch auffällig gewesen, sagte Verfassungsschutzchef Haldenwang am Dienstag. (red, APA, dpa, 19.6.2019)