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Foto: REUTERS/Mohamed Abd El Ghany

Wenn in England der Ball rollt, ist es in Ägypten still. Oder stiller. Denn so richtig ruhig ist es gerade in der Hauptstadt Kairo nie. Schon wenn man das Flughafengelände hinter sich lässt, fühlt es sich an, wie wenn man Sand in eine kleine Trommel füllt und sie auf einen Lautsprecher stellt. Aufdrehen.

Kairo ist eine aufgedrehte Stadt, auf den ersten Kilometern der Hauptstraße, die direkt in die Stadt führt, ist man eine Ameise in einem riesigen Bau, den jemand durchschüttelt. Rotgelbe Häuser links und rechts, am Horizont sieht man die mächtige Muhammad-Ali-Moschee. Kairo wird auch die Stadt der tausend Moscheen genannt. Es ist laut, es ist staubig, es ist eng. Das Chaos ist alltäglich und allgegenwärtig, die Ägypter kennen das. Ständiges Gehupe, Gedrängle, überall Menschen und Tiere, die von A nach B wollen. Pendeln ist eine Qual, 20 Millionen Menschen leben im Großraum Kairo. 20 Millionen.

Chaos, Chaos

Es ist nicht nur auf der Straße chaotisch. Seit den ersten Protesten der ägyptischen Revolution im Jänner 2011 war das Land im politischen Wandel. Man könnte auch von einer Achterbahn sprechen, das würde den Toten der Unruhen aber nicht gerecht werden. Der Sturz des langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak ist acht Jahre her, erst kürzlich verstarb einer seiner Nachfolger, Mohammed Morsi, bei einer Gerichtsverhandlung nach einem Schlaganfall.

Abd al-Fattah as-Sisi ist Ägyptens Präsident.
Foto: APA/AFP/DANIEL MIHAILESCU

Im Zentrum der Macht ist Präsident Abd al-Fattah as-Sisi. 2019 sorgte eine Verfassungsänderung dafür, dass er bis 2030 Staatsoberhaupt bleiben könnte. "Seit 2011 steht in Ägypten die Politik über der Gesellschaft", sagt der Soziologe und Wissenschaftler Ziad al Akl. Schwierig für eine Gesellschaft. Es habe ein "Symbol, eine Identifikationsfigur gebraucht. Das ist Mohamed Salah."

Ein Liverpool-Eckpfeiler

Mohamed Salah ist Fußballer, spielt beim FC Liverpool und hat mit den Engländern 2019 die Champions League gewonnen. Der 27-Jährige ist allgegenwärtig, sein Konterfei ist auf Mauern, über Bars, auf T-Shirts und Fahnen zu sehen. Wenn Liverpool spielt, sitzt Ägypten vor dem Fernseher, und alle Blicke sind auf den 175 Zentimeter großen Wuschelkopf gerichtet, der für das Team von Jürgen Klopp die rechte Offensivseite bearbeitet. Mit herausgestreckter Zunge, einer brillanten Technik und einem Sinn fürs Toreschießen ist Mohamed Salah einer der wichtigsten Eckpfeiler bei Liverpool. Für Ägypten ist er mehr. Viel mehr.

Mo Salah nach seinem Tor im letzten Champions-League-Finale.
Foto: APA/AFP/GABRIEL BOUYS

Salah wächst im kleinen Dorf Nagrig im Nildelta auf und beginnt im Alter von zwölf Jahren mit dem Fußball. Er wird später bei einem Jugendturnier vom Kairoer Verein Al-Mokawloon SC entdeckt und verpflichtet. Salah pendelt zwischen Kairo und seinem Heimatort per Zug und Bus. Das klingt mühsam, war es wohl auch. Seine Karriere kommt in Schwung, 2011 zieht es ihn in die Schweiz zum FC Basel. Drei Jahre später folgt ein eher glückloses Engagement beim FC Chelsea.

Durchbruch auf der Insel

Salah übersiedelt nach Italien (AC Florenz und AS Rom) und kehrt 2017 wieder nach England zurück. Jetzt etabliert er sich als Topspieler in der Premier League und als Idol in seiner Heimat. Al Akli: "Das Entscheidende an Salahs Popularität ist, dass es keine Klassengrenzen gibt. Es ist egal, ob du ein reiches Kind aus einem Kairoer Vorort bist oder aus einer armen Familie aus dem Nildelta kommst. Das Vorbild, das Idol ist immer Mohamed Salah."

Mo Salah ist aus Kairo nicht wegzudenken.
Foto: APA/AFP/KHALED DESOUKI

Ägypten brauchte einen Helden, und Salah stand bereit. Der praktizierende Muslim wurde vom Time-Magazin in die Liste der hundert einflussreichsten Menschen gewählt – im Interview forderte er mehr Respekt für Frauen im Mittleren Osten und in der muslimischen Welt. Das ist insofern bemerkenswert, als sich Salah öffentlich kaum politisch oder sozialkritisch deklariert. Er gilt als scheu und zurückhaltend, per Instagram zeigt er schon mal seinen Body im Urlaub, das war's aber auch.

Clevere Zurückhaltung

Salah gibt sich dezidiert unpolitisch, das ist laut Al Akli "clever". "Er hat für die Tahiy-Masr-Initiative (,Lang lebe Ägypten') gespendet, dafür hat sich Präsident Sisi bedankt. Politische Äußerungen gibt es sonst nahezu keine." Denn es kann auch ganz schnell gehen: Dem Mittelfeldspieler Mohamed Aboutreika, der 100 Spiele im Nationalteam bestritten hatte, wurde vorgeworfen, die mittlerweile verbotene Muslimbruderschaft finanziell zu unterstützen. Seit 2017 steht Aboutreika auf der Terroristenliste, er musste nach Katar ins Exil.

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Hier bejubelt Mohamed Aboutreika 2008 ein Tor im Afrika-Cup. Mittlerweile ist er in Katar im Exil.
Foto: AP Photo/Rebecca Blackwell

Und trotzdem: Salahs gesellschaftlicher Einfluss ist enorm. 2019 machte er sich für eine Antidrogenkampagne stark, sein Video wurde in den ersten drei Tagen gut fünf Millionen Mal angeklickt. Vom ägyptischen Ministerium hieß es, dass die Anrufe bei der Drogenhilfe-Hotline um 400 Prozent gestiegen seien.

Der "Mo-Salah-Effekt"

Auch in England ist Salah nicht nur fußballerisch angekommen. Eine Studie des Immigration Policy Lab der Uni Stanford belegt, dass seit Salahs Verpflichtung 2017 die Zahl schwerwiegender Hassverbrechen in der Metropolregion Liverpool um knapp ein Fünftel zurückgegangen ist. Zudem posteten Liverpool-Fans um die Hälfte weniger antimuslimische Tweets als die Anhänger vergleichbarer Vereine. Da die Anzahl anderer Verbrechen in der Region etwa gleichblieben, gehen die Forscher, die 15 Millionen Tweets untersuchten und 8600 Fußballfans interviewten, von einem direkten "Mo-Salah-Effekt" aus. Der steht in direktem Widerspruch zum gesamtenglischen Trend, wo Hassverbrechen gegen Muslime teilweise alarmierend angestiegen sind.

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Salah wird in Liverpool geliebt.
Foto: REUTERS/Phil Noble

Dass Salah gerade für einen englischen Verein spielt, tut in Ägypten, das von 1882 bis formell 1920 von England besetzt war, nichts zur Sache. "Eigentlich bin ich kein Fan des englischen Fußballs, aber es ist egal, weil Salah dort spielt. Das ist wichtiger als postkoloniales Beleidigtsein", sagt Al Akli.

Fußball ist wieder Fußball

Wenn am Freitag der Afrika-Cup mit erstmals 24 (statt 16) Teams beginnt und die favorisierten Gastgeber in Kairo auf Simbabwe treffen, rückt der Fußball noch mehr in den Vordergrund. Von der Katastrophe im nordägyptischen Port Said, wo 2012 bei Ausschreitungen 74 Fans ums Leben kamen und fast 1000 verletzt wurden, erholte man sich nur schwer. Salahs Erfolge machten den Sport wieder zu dem, was er für viele ist: ein Kino der Hoffnung.

Ägypten-Fans bei der WM 2018.
Foto: APA/AFP/NICOLAS ASFOURI

Schließlich hat es auch ein kleiner Wuschelkopf aus einem unbedeutenden Dorf im Nildelta geschafft. "Für Europäer ist das vielleicht schwieriger zu verstehen, weil die gesellschaftlichen Klassen nicht so weit auseinander sind", ordnet Al Akli ein. "Wir hatten auch einen Literaturnobelpreisträger – doch Salah ist vielleicht der wichtigste Ägypter der Geschichte, weil er besonders der Jugend in schwierigen Zeiten Hoffnung gibt." (Andreas Hagenauer, Fabian Sommavilla, 21.6.2019)