Genau vor 80 Jahren, am 23. Juni 1939, trafen sich unter dem Vorsitz von Reichsführer SS Heinrich Himmler in Berlin deutsche und italienische Vertreter, um die Umsiedlung der Südtiroler zu vereinbaren. Südtirol, das einmal Teil der österreichischen Monarchie gewesen war und erst nach dem Ersten Weltkrieg im Friedensvertrag von Saint Germain 1919 Italien zugesprochen wurde, sollte italienisch bleiben, seine Bevölkerung aber wurde vor die Wahl gestellt: entweder Reichsbürger werden und ins Dritte Reich abwandern oder unter Beibehaltung der italienischen Staatsbürgerschaft in der faschistisch regierten Heimat bleiben. 86 Prozent der Südtiroler und Südtirolerinnen (für die Ehefrauen und die Minderjährigen entschieden die Ehemänner bzw. die Familienoberhäupter) optierten für das Deutsche Reich. Tatsächlich gegangen ist knapp ein Drittel.

Die Option kostete meinen Großonkel das Leben. Er kam als Wehrmachtssoldat an die russische Front, fiel am 10. Jänner 1944 bei Witebsk.
Foto: Sabine Gruber

Noch 1919 hat der damalige italienische Außenminister Tommaso Tittoni versprochen, die deutschsprachige Minderheit zu respektieren. Mit der Machtergreifung der Faschisten änderte sich die Situation schnell. Die deutsche Unterrichtssprache wurde verboten, Orts- und Familiennamen wurden zwangsitalienisiert. Man holte italienische Arbeiter für die neu geschaffenen Industriebetriebe und Sozialwohnungen nach Südtirol, untersagte Vereine und Verbände – kurz: Man tat alles, um die Entnationalisierung der Südtiroler zu forcieren. Wer sich in irgendeiner Form widersetzte, dem drohte die Verbannung. Beschwerden beim Völkerbund wurden abgeschmettert. Man wertete die Entwicklungen als inneritalienische Angelegenheit.

Entsprechend groß war die Erlösungssehnsucht vieler Südtiroler. Man hoffte, dass Hitler die "Schandverträge" von St. Germain revidieren und Südtirol nach der Annexion Österreichs 1938 "heim ins Reich" holen würde. Hitlers Verzicht auf Südtirol war für viele eine herbe Enttäuschung. Die Faszination vieler Südtiroler für den Nationalsozialismus lässt sich jedoch nicht allein als Widerstandsreaktion auf den Faschismus begreifen, sondern auch als Hinwendung zur deutschnationalen politischen Kultur, die in Tirol schon in der Monarchie stark verbreitet war. Die politischen Gegner der nationalsozialistischen Illegalen, die es ab 1928 auch in Südtirol gab, waren nicht nur die Faschisten, sondern auch die Sozialdemokraten, die Pazifisten und die Juden, alle, die der großdeutschen Reichsidee entgegenstanden.

Der Kaiser weg, Tirol weg ...

"Ich bin als kaisertreuer Tiroler aufgewachsen. Plötzlich war Österreich weg, der Kaiser weg, Tirol weg", so mein Großvater Josef Gruber. Er habe später die Buchdruckerei übernommen. Ohne den Mitgliedsausweis des Partito Nazionale Fascista wäre es seines Erachtens gar nicht möglich gewesen, den väterlichen Betrieb aufrechtzuerhalten. Großvater war aber auch Unteroffizier des italienischen Heeres gewesen, "weil es sein musste", wie er mehrfach beteuerte. Musste es sein?

Im August 1939, bei einer Parteiversammlung der Faschisten in Meran, habe ihn ein Fascio angebrüllt, er, Giuseppe Gruber, sei ein schlechter Faschist und das Beste sei, er ginge ehestens über die Grenze. Da habe er beschlossen zu optieren.

So einfach und so schnell ist die Entscheidung vermutlich nicht gefallen, denn die Familie meines Großvaters war bezüglich der Frage, welche Treue, die zur Heimat oder die zu Deutschland, vorzuziehen sei, völlig zerrissen.

Meine Urgroßmutter Anna Gruber, geb. 1883, starb, als ich elf Jahre alt war. Sie war eine der wenigen Vertreterinnen des dörflichen Bildungsbürgertums, eine vorausschauende, belesene Frau, die Wissen und Handwerk höher bewertete als Besitz und Status.

Ich kann mir gut vorstellen, wie sie sich damals, in diesem für Südtirol schicksalhaften Jahr 1939, mehr als einmal mit ihren Söhnen und ihrem Mann an den großen Tisch in die Stube gesetzt hatte, um die schwierige Situation zu besprechen. Mein Großvater kommentierte später die historische Ausstellung Option 1939 in Bozen mit den Worten: "Nicht dargestellt werden konnte aus jener Zeit die große seelische Belastung der Menschen, die quälende Sorge wegen der unsicheren Zukunft, das nächtliche Grübeln (...). Nicht darstellen lassen sich die oft harten Auseinandersetzungen innerhalb der Familien (...)".

Meine Urgroßeltern und ein Sohn entschieden sich zu bleiben, drei Söhne, darunter auch mein Großvater, optierten für das Deutsche Reich. Was spielte sich damals in der Stube ab? Wie tief ging das familiäre Zerwürfnis? Meine Urgroßmutter soll die einfache Frage gestellt haben, wo denn die Leute jetzt seien, deren Besitztümer angeblich den Südtirolern in Russisch-Polen zur Verfügung stünden. Es sei nicht rechtens, die Häuser von Vertriebenen oder gar Ermordeten zu bewohnen.

Unwirtliche Erde Galiziens

1939 hatte Heinrich Himmler nach dem erfolgreichen Polenfeldzug im Oktober als mögliches Siedlungsgebiet für die Südtiroler die Beskiden bekanntgegeben. Aber das Südtiroler Obstparadies wollte man dann doch nicht gegen die unwirtliche Erde Galiziens eintauschen. Als Nächstes schlug Himmler die Freigrafschaft Burgund vor. Wieder reiste eine Delegation in die mögliche zukünftige "Heimat". Besançon – stellte man sich vor – würde Bozen, Chalon Meran werden usw. Die Franzosen sollten ins Vichy-Frankreich vertrieben werden. Doch es gab keinen Friedensvertrag Hitlers mit Frankreich und auch keine endgültig abgetretenen Gebiete.

Nachdem Hitler 1941 Jugoslawien angegriffen hatte, plante man die Umsiedlung der Südtiroler in die Südsteiermark und nach Südkärnten. Ein Jahr später, im Sommer 1942, hatte man die Idee, an der Südgrenze des Deutschen Reiches einen völkischen Grenzwall gegen Asien zu errichten und die Südtiroler auf der von den Russen und Ukrainern befreiten Krim anzusiedeln.

Mein Großvater, der älteste der vier Brüder, erklärte mir kurz vor seinem Tod, er habe nicht für Hitler optiert, sondern für Deutschland – eine Aussage, die man von Optanten öfter zu hören bekam. 1939 ließen sich Führer und Reich wohl kaum noch getrennt wahrnehmen. Sein Bruder Luis, der zum Zeitpunkt der Option 20 Jahre alt war, hoffte, als Reichsbürger vor allem dem italienischen Heer zu entkommen.

In seinem Tagebuch beschreibt er die Zeit von 1939 bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht im April 1943 als die schönste seines Lebens, die er vor allem dazu nutzte, eine 600 Seiten dicke Geschichte Tirols zu verfassen, wenn er nicht gerade in der Druckerei meines Großvaters arbeitete. In seinen Notizen zeigt er sich entsetzt über den "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich. Während aller Augen längst auf Deutschland gerichtet waren, trauerte er dem untergegangenen Österreich nach. Zwischen den Tagebuchseiten fand ich die Vorladung der deutschen Ein- und Rückwandererstelle vom 20. 3. 1942. Er, Luis Gruber, habe sich bisher geweigert, seinen Einbürgerungsantrag zu stellen, und werde daher aufgefordert, sich innerhalb von drei Tagen im Hotel Bristol in Meran zu stellen.

Wie lässt sich seine Verzögerungstaktik erklären? Bedauerte er, optiert zu haben? War er auf der Seite des Klerus, für den Hitler ein Feind des Glaubens und daher mit dem Tirolertum nicht vereinbar war? Die Option kostete meinen Großonkel das Leben. Er kam als Wehrmachtssoldat an die russische Front, fiel am 10. Jänner 1944 bei Witebsk.

Der Großvater hingegen wurde zum Vertrauensmann der Optanten; er hatte an einem NSDAP-Schulungskurs für "volksdeutsche Umsiedler" in Sonthofen im Allgäu teilgenommen, der dazu dienen sollte, die "politische Führungselite der Südtiroler Volksgruppe" für die "neue Heimat" auszubilden. Im Juni 1943 rückte mein Großvater ein – Einsatzgebiet Norditalien.

Meiner Frage, was er wo getan habe, war er stets ausgewichen. Er sei vor allem als Übersetzer tätig gewesen. Meinen Artikel über die Wehrmachtsausstellung Vom Krieg erzählen, von den Verbrechen schweigen im Jahr 1995 kommentierte er mit dem Satz, ich solle nicht über etwas schreiben, das ich nicht selbst erlebt hätte. Antinazistische Dableiber hätten ihn nach dem Krieg als Gestapo-Mann denunziert, was "absolut erlogen" gewesen sei. Das Jahr im Kriegsverbrecherlager Livorno habe er seinen eigenen Landsleuten zu verdanken.

Nach dem Krieg, 1956, wurde er Bürgermeister von Lana und machte sich neuerlich Feinde, weil er gegen die "Bumser" und die Politiker dahinter agitierte. Er war der Überzeugung, dass sich wegen der Sprengstoffanschläge das Autonomiestatut um zehn Jahre verspätet habe. Dass er für gewaltfreie Verhandlungen mit den Italienern eingetreten war, bescherte ihm Todesdrohungen vonseiten des Befreiungsausschusses Südtirol, der sogenannten "Freiheitskämpfer", die mein Großvater allerdings "Terroristen" nannte.

Option für das Deutsche Reich

Seine Option für das Deutsche Reich entschuldigte er – wie viele andere Optanten – mit 18 Jahren Faschismus, er zog sich wie die meisten in die Opferhaltung zurück. Dass man sich Hitlers politischen Zielen untergeordnet hatte und durch die Option auch ein Stück weit den Abwanderungswünschen der Faschisten entgegengekommen war, wollte man nicht sehen. Die auch nach 1945 noch bestehenden Gräben zwischen den Dableibern und den Optanten wurden weitestgehend ignoriert.

Die Südtiroler Volkspartei verordnete nach dem Krieg das Diktat der politischen Geschlossenheit. Man befürchtete das Auseinanderbrechen der deutschen Einheitspartei und damit eine Schwächung der Position der Minderheit im Kampf gegen das übermächtige Italien, im Kampf für mehr Autonomie.

Ich sehe die Stube meiner Urgroßmutter vor mir, die Wanduhr, die Bücher von Schiller, Eichendorff, Kleist, Dantes La Divina Commedia, die Promessi Sposi von Manzoni. Half Bildung zumindest, die richtigen Fragen zu stellen? Machte sie immun gegen die sizilianische Legende, wonach Nichtoptanten nach dem Süden oder gar nach Abessinien zwangsverfrachtet werden sollten, immun gegen die Beschimpfung als walsche Kollaborateure?

Zwischen 1949 und Ende der 50er-Jahre kehrten von den circa 75.000 Optanten 20.000 wieder nach Südtirol zurück. Auch die Optanten-Familie meiner Mutter, die erst in einem Innsbrucker Barackenlager, dann in ärmlichen Wohnungen in Lienz und im Oberinntal gelebt hatte. Viele der mittellosen Heimkehrer brachte man in Siedlungen unter. In Bruneck hieß die Siedlung für die "Hitlerschen" im Volksmund "Hungerburg" und "Revolverviertel". Die Nazi-Eliten machten hingegen auch nach dem Krieg Karriere. (Sabine Gruber, Album, 22.6.2019)