Der Druck und Stress, die richtigen Entscheidungen zu treffen, sich selbst zu optimieren, machen auch vor Kindern und Familien nicht Halt. Das zeigte erst kürzlich eine vom SOS-Kinderdorf in Auftrag gegebene Studie, über die DER STANDARD berichtete. 88 Prozent der befragten Jugendlichen sprachen von Stress, fast 40 Prozent gaben an, sich sehr oder eher gestresst zu fühlen, wenn ihre Eltern gestresst von der Arbeit nach Hause kommen. Jutta Ecarius, eine der führenden, deutschen Erziehungswissenschafterinnen, untersucht schon seit mehr als 30 Jahren, wie Erziehung sich über die Zeit ändert und welche Einfluss Zeitmoden darauf nehmen. Vergangene Woche kam sie auf Einladung des SOS-Kinderdorfs nach Wien.

STANDARD: Überraschte Sie, dass 88 Prozent der befragten Jugend lichen angaben, Druck und Stress in ihrer Familie zu empfinden?

Erziehungswissenschafterin Jutta Ecarius plädiert dafür, das Hamsterrad der Optimierung auch anzuhalten
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Ecarius: Es überrascht mich, dass es so viele Jugendliche sind, aber auf der anderen Seite auch nicht, weil wir in einer spätmodernen Gesellschaft leben, in der alles herzustellen ist. Ich meine, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir alle Möglichkeiten haben: wie wir leben wollen, mit tradi tionellen oder modernen Werten, religiös oder nicht, hetero-, homo- oder transsexuell. Ich kann mich nicht einfach nur abgrenzen und sagen "Das bin ich", sondern ich muss flexibel und für alle Situationen gewappnet bleiben. Kinder und Jugendliche müssen heute lernen, zu entscheiden, was sie für wichtig empfinden. Und diese Freiheit hat zwar große Vor teile, aber sie produziert auch Stress. Auswählen zu können heißt gleichzeitig, auswählen zu müssen.

STANDARD: Welche Anforderungen entstehen eigentlich für die Eltern?

Ecarius: Sehr große. Auch Familie ist heute herzustellen. Wir wissen, dass immer noch fast 70 Prozent in sogenannten vollständigen Familien leben, also Kinder bis zu ihrem 18. Lebensjahr mit leiblichem Vater und leiblicher Mutter. Aber 30 Prozent gestalten Familie vielfältig. So gibt es Variationen, in denen Mutter und Vater drei Wohnungen mieten, eine für die Kinder, und die getrennt lebenden Eltern pendeln in die Wohnung, in der die Kinder leben. Es muss auch entschieden werden, welcher Elternteil welchen Part übernimmt. Dazu kommt die Berufstätigkeit, vor allem auch von Frauen. So entsteht Druck, alles unter einen Hut zu bringen und sich zu überlegen, wie Familie gelebt werden kann.

STANDARD: Wie haben sich Erziehungsstile über die Jahre verändert?

Ecarius: Früher gab es die Erziehung des Verhandelns, die heute vermehrt von einer Erziehung des Beratens abgelöst wird. In den 70er- und 80er-Jahren ging es für die Jugendlichen darum, sich von traditionellen Werten loszusagen, eine bessere Gesellschaft aufzubauen, sich darin selbst zu finden und sich von den Eltern abzugrenzen. Eltern sind Autoritätspersonen, die das Kind zwar stark berücksichtigen, aber auch Grenzen setzen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist zwar recht intim, aber sie leben in getrennten Welten.

STANDARD: Wie unterscheidet sich dazu die von Ihnen definierte Erziehung des Beratens?

Ecarius: Sie hat einen anderen Tenor. Wenn die Kinder klein sind, wird zwar eine Erziehung des Verhandelns praktiziert und die Kinder lernen, was sie dürfen und was nicht. Sobald sie dann zwölf oder 13 Jahre alt sind und selbstständiger werden, kann man ihnen keine genauen Vorgaben mehr machen. Stattdessen sagt man: Du darfst jetzt zwischen dem und dem auswählen, darüber können wir diskutieren. Es geht darum, die Kinder als selbst verantwortliche Persönlichkeiten zu respektieren.

Fridays for Future: Eltern sollten gemeinsam mit Jugendlichen die Zukunft gestalten
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STANDARD: Wie kann das in der Praxis aussehen?

Ecarius: Eltern beraten in verschiedenen Lebensbereichen, von Problemen mit Freunden, hin zu Schule oder Mobbing und der Frage, wie sie sich beruflich entwickeln wollen. Eltern sind zurückhaltend, sie informieren beratend, lenken indirekt. Die Intimität zwischen Eltern und Kindern wird größer, sie nähern sich in der Machtbalance stärker an. Mutter und Vater avancieren zu den engsten Beratern, noch vor den Freunden. Durch das Beraten lernen die Kinder zu evaluieren. Diese Erziehung passt in unsere spätmoderne Gesellschaft eines offenen, ethischen Wertehorizontes. Und das produziert auch bei Eltern Stress – weil sie immer da und auch nah am Kind sein wollen und müssen.

STANDARD: Welche Unterstützung brauchen Eltern dafür?

Ecarius: Bei der Erziehung des Beratens kommt man nie an ein Ende. Und da ist die Frage: Wenn ich immer für das Kind da bin, wann bin ich dann eigentlich für mich da? Man muss Eltern helfen, mit den Anforderungen einer optimierten Erziehung umzugehen. Und ihnen sagen, dass das Gefühl der Verunsicherung etwas ist, das sich in unsere Spätmoderne einfügt. Ich habe Studien gemacht mit Eltern, die zur Beratung gehen und sagen, ich will das Beste für mein Kind, ich weiß aber gar nicht, was das ist. Man muss das Hamsterrad der Optimierung auch einmal anhalten und Freiräume schaffen.

STANDARD: Wie könnte das auf einer systemischen oder der staat lichen Ebene gelingen?

Ecarius: Es braucht mehr Beratungsstellen, Menschen, die sich mit der Erziehung des Beratens auseinandersetzen. Auch sollte man überlegen, die Elternzeit (Karenz, Anm.) zu verlängern. 30 Prozent der jungen Frauen mit Hochschulstudium sagen jetzt schon: Ich entscheide mich gegen Kinder, diesen Stress tue ich mir nicht an. Wenn wir sicherstellen, dass sie in ihre Berufstätigkeit zurückkommen können und während der Elternzeit mehr Geld bekommen, werden sie auch entspannter sein und Zeit für ihre Kinder haben. Väter nehmen zwar auch Elternzeit, aber in der Regel direkt nach der Geburt, also in der Zeit, in der die Frauen ohnehin zu Hause sind. Das ist natürlich nicht verboten, aber eigentlich nicht der Punkt.

STANDARD: Viele Jugendliche, gerade diejenigen, die im Rahmen der Fridays for Future auf die Straße gehen, sorgen sich um ihre Zukunft. Wie geht man damit um?

Ecarius: Die Jugendlichen wissen, dass wir eine offene Zukunft haben. Auch die Gewissheit, einen fixen Partner zu haben, sich eine Wohnung leisten zu können oder einen fixen Job zu haben, gibt es nicht mehr.

STANDARD: Das macht das Beraten als Elternteil doch um einiges schwieriger, oder?

Ecarius: Man kann auch beraten, ohne zu wissen, wie es in der Zukunft aussieht. Kinder sollen Evaluationsstrategien entwickeln. Mein Standpunkt ist, dass man Kinder so erziehen sollte, dass sie rücksichtsvoll mit Ressourcen umgehen, darauf achten, wie sie sich ernähren, wie sie mit Mobilität umgehen und dass sie andere respektieren. Die Anthropologin Margaret Mead hat schon in den 60er-Jahren geschrieben, dass wir in einer präfigurativen Gesellschaft sind: Das heißt, keine Generation weiß, wie es weitergeht, und wir müssen lernen, miteinander zu kommunizieren. Deswegen sind bei Fridays for Future ja auch Erwachsene dabei. Es ist ein Weg, gemeinsam an dieser Zukunft zu arbeiten.