Neuwahlen haben es in sich. Zumal dann, wenn das erste Wahlergebnis vom Verlierer erfolgreich angezweifelt wurde. In Österreich hieß es bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen: Es bleibt dabei. Es blieb nicht nur dabei, Alexander Van der Bellen schlug Norbert Hofer höher als im ersten Wahlgang. Inzwischen hat er auch auf der Beliebtheitsskala souverän den bisherigen Darling der Nation, unseren feschen Altkanzler, überrundet.

Auch in Istanbul sind Neuwahlen angesagt. Warum? Weil beim ersten Wahlkampf der Kandidat der säkularen CHP, Ekrem Imamoglu, und nicht jener von Präsident Erdoğans Gnaden, Binali Yildirim, gewonnen hatte. Erdoğan und seine Partei AKP beanstandeten Wahlbetrug und forderten ihrerseits Neuwahlen. Heute, Sonntag, ist es soweit.

Wahlkundgebung in Istanbul für Erdoğans Kandidat für die Bürgermeisterwahl am Sonntag, Binali Yildirim.
Foto: AFP/Adem Altan

Erdoğans Herausforderer

"Erdoğans Hochburg wankt" schreibt eine deutsche Tageszeitung, andere deutsche Medien wiederum sehen in Ekrem Imamoglu bereits – vielleicht ein bisschen übereilt – als künftigen Nachfolger Erdoğans. Ekrem Imamoglu, zu deutsch der barmherzige Sohn eines Imam, ist charismatisch und eloquent, er hat ein hochprofessionellen PR-Team und ist Sohn einer konservativen Familie. Sein Slogan "alles wird gut" spricht alle Bevölkerungsschichten an, auch das türkische Kapital, das in Istanbul konzentriert ist und – allerdings auf höchstem Niveau – auch mit der langanhaltenden Wirtschaftskrise kämpft.

"Säuberung der öffentlichen Meinung"

Und was vermelden die türkischen Medien? Diese sind seit Erdoğan regiert weitgehend gleichgeschaltet. Einst kritische Stimmen wurden wegen angeblicher Kontakte zu Terroristen – damit ist die militante kurdische Partei PKK gemeint – verurteilt und hinter Gitter gebracht. Diese "Säuberung der öffentlichen Meinung" wurde in aller Brutalität nach dem Putschversuch Mitte Juli 2016 durchgezogen. Niemand war seitdem mehr sicher. Manche Journalisten und Journalistinnen wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, andere warten noch immer in Untersuchungshaft auf ihre Prozesse. Die Zahl der inhaftierten Medienmenschen liegt derzeit bei mehr als 130. Nicht zu Unrecht nennt Reporter ohne Grenzen die Türkei das größte Journalistengefängnis der Welt.

"Stimmt alles nicht"

"Stimmt alles nicht", meinte sinngemäß kürzlich der türkische Botschafter in Wien, Ümit Yardim. In einem Spezial-Interview mit der "Kronen Zeitung" betont dieser: Diese werde in- und außerhalb der Türkei unterschiedlich wahrgenommen. Auch heute werde seitens der türkischen Medien harsche Kritik an der Regierung geübt. Doch nach getaner Arbeit gingen die Journalisten ruhig nach Hause. Ümit Yardim im O-Ton: "Manche aber betreiben unter dem Deckmantel ihres Presseausweises Terrorpropaganda". Aha. So klingt das aus offizieller türkischer Sicht. Für mehr als 130 inhaftierte Medienmenschen ist der Begriff "manche" jedoch ziemlich untertrieben.

Wie es scheint, waren türkische Repräsentanten in den vergangenen Wochen emsig unterwegs, mit solchen Sagern Auslandstürken und deren Familien auf den Erdoğan-Kandidaten Yildirim – zu deutsch Blitz – einzustimmen und zugleich Tourismuswerbung zu betreiben. Nachzulesen hier.

Wirtschaftsjournalisten vor Gericht zitiert

Alles ist also palletti. Warum aber, so fragt man sich, werden jetzt plötzlich auch Wirtschaftsjournalisten vor Gericht zitiert? Für den 20. Juni war ein Gerichtstermin für den Journalisten Cengiz Erdinc angesetzt. Anlass: Ein Artikel aus dem Jahr 2016, in dem er berichtete, dass in den USA von Finanzbehörden die New Yorker Niederlassung einer türkischen Bank ins Visier genommen worden war. Wenige Tage zuvor klagte ein Strafgericht in Istanbul zwei Bloomberg-Reporter an, im August 2018 mit ihren Berichten über die damalige Wirtschaftskrise versucht zu haben, die türkische Wirtschaft zu destabilisieren. Ein Prozess droht auch 36 anderen Kolleginnen und Kollegen, die diesen Artikel per Twitter in Umlauf gebracht haben. Dies zum Thema Pressefreiheit in der Türkei. Anders gesagt: Message-Control alla Turca.

Familie in Geiselhaft

Und noch etwas: Vor wenigen Wochen ist es Dilek Dündar gelungen, die Türkei zu verlassen und zu ihrem Ehemann Can Dündar, der seit drei Jahren in Berlin im Exil lebt, zu kommen.

Can Dündar, der frühere Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet hatte Material veröffentlicht, demzufolge Waffenlieferungen aus der Türkei nach Syrien erfolgten.

Dilek Dündar ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Dokumentarfilmerin. Sie wurde finanziell ausgehungert, das Haus der Familie in Istanbul wurde zwangsversteigert, sie wurde so in Geiselhaft genommen. Wie sie sagt, steht ihr Schicksal beispielhaft für "Tausende von Ehepartnern, die wegen ihrer Familienbindungen grundlos bestraft werden." Wie ihr die Flucht gelang, ist kein Thema. Offensichtlich hat sie nicht die von unserem Altkanzler persönlich geschlossene Balkanroute gewählt. (Rubina Möhring, 23.6.2019)