Bei den aufgetauchten Rissen im Reaktor Flamanville geht es um mehr als nur um ein paar nicht gut gemachte Schweißnähte.

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Es sind nur ein paar Schweißnähte – aber sie bedrohen den ganzen Nuklearkurs eines Landes, dessen Strom zu fast drei Vierteln aus Kernenergie stammt. Die französische Atomsicherheitsbehörde ASN hatte am Donnerstag verkündigt, dass acht längere Nähte in der Stahlhülle des neuen Druckwasserreaktors (EPR) in Flamanville (Normandie) undicht seien und neu geschweißt werden müssen. Zur Ausbesserung muss wahrscheinlich eine zweite Sicherheitshülle aus teils meterdickem Beton abgetragen werden. Für diese Arbeiten fehlt aber das Fachpersonal, denn Frankreich hat seit zwanzig Jahren keine Atommeiler mehr gebaut.

Vor allem aber fehlt die Zeit. Der EPR in Flamanville kann laut ASN-Vorsteher Bernard Doroszczuk erst Ende 2022 ans Netz gehen. Das wird den Stromkonzern Électricité de France (EDF) viel Geld kosten. Ursprünglich für 2012 vorgesehen, kostet der neue Reaktor schon heute rund elf Milliarden Euro, dreimal mehr als ursprünglich geplant. Unabsehbar sind die kommerziellen Folgen: Großbritannien hat von Frankreich zwei EPR bestellt und schaut zunehmend skeptisch auf das neue Flaggschiff der französischen Atompolitik. Auch Großkunden wie Indien könnten abspenstig werden.

Im chinesischen Taishan ist zwar ein von Frankreich gebauter EPR-Reaktor seit einem halben Jahr in Betrieb, aber wohl nur, weil die lokalen Sicherheitsbehörden weniger Auflagen machen; zudem ist die Rentabilität "ungenügend", wie EDF-Vorsteher Jean-Bernard Lévy im Frühjahr zugeben musste.

Atombranche in der Sackgasse

In Frankreich selbst, wo die EPR-Technologie die 58 bestehenden Kernreaktoren langfristig ablösen soll, fragen sich Medien und Politiker, ob die Affäre der Schweißnähte die ganze Atombranche bedrohe. Sie stecke in einer "Sackgasse", kommentierte die Zeitung "Le Monde" am Freitag. Der Kurs der EDF-Aktie – die zu 14 Prozent in privater Hand ist – verlor ebenfalls deutlich an Wert, nachdem sie innerhalb eines Jahres schon um 17 Prozent eingebrochen war.

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Die Baustelle in Flamanville wird gut abgesichert.
Foto: Reuters/Benoit Tessier

Auch Emmanuel Macron muss seine Energiepolitik überdenken. Der französische Präsident wollte den Startschuss für Flamanville unbedingt nächstes Jahr geben. Dies sollte es ermöglichen, die vier letzten Kohlekraftwerke des Landes 2022 sowie das dienstälteste AKW Fessenheim 2020 stillzulegen. Daran will Macron offenbar festhalten. Das EPR-Problem "ändert nichts an unserer Entscheidung und unserem Arbeitsprogramm, Fessenheim bis 2020 zu schließen", erklärte seine zuständige Staatssekretärin Brune Poirson am Freitag. Die vier französischen Kohlekraftwerke würden bis zum Ende von Macrons Amtszeit 2022 abgeschaltet. Fessenheim-Gegner erinnern sich, dass der frühere Präsident François Hollande die Schließung von Fessenheim auch schon bis zum Ende seiner Amtszeit versprochen hatte.

Ersatz für Elsass

Branchenexperten schätzen allerdings, dass EDF in der Zwischenzeit wirklich Ersatz für das umstrittene elsässische AKW gesucht und gefunden habe. Vom EPR-Fiasko ist die EDF bedeutend härter getroffen. Der stolze Staatskonzern, der mit seinem AKW-Park groß geworden war, zerbricht nun genau daran.

Vorsteher Lévy präsentierte am Donnerstag den Gewerkschaften ein Projekt namens "Hercule", das die Aufsplitterung des Konzerns vorsieht, ähnlich wie es die deutschen Konkurrenten RWE und Eon bereits vor Jahren vorgemacht hatten. "EDF blau" soll in Zukunft die Kern- und Wasserkraftwerke sowie die Stromnetze unter ihrem Dach vereinen und zu 100 Prozent im Besitz des französischen Staates bleiben; die privatisierte "EDF grün" würde die übrigen erneuerbaren Energien und den kommerziellen Handel mit Strom übernehmen.

Bürger soll Atomschuld nicht zahlen

Lévy will damit offiziell der EU-Vorgabe zur Öffnung des Strommarktes nachkommen. Die Gewerkschaften sind allerdings gegen die Spaltung, da sie um ihr Sonderstatut fürchten. Auch der grüne Europaabgeordnete Yannik Jadot meldete am Freitag Widerstand an: "Wir sind gegen die Logik, dass der Staat, also die Steuerzahler, die Atomschulden begleichen soll, während private Aktionäre mit dem Stromhandel Geld verdienen." EDF ächzt heute unter einer gigantischen Schuld von 37 Milliarden Euro – und müsste für die Erneuerung des AKW-Parks weitere 50 Milliarden Euro stemmen.

Der technische und damit finanzielle Ärger mit dem EPR Flamanville dürfte auch auf die öffentliche Meinung einwirken. Die Franzosen waren bisher vor allem deshalb für den Atomstrom, weil er billig war. Die steigenden Kosten für den AKW-Park und die Endlagerung haben aber in den vergangenen fünf Jahren zu einem Umdenken geführt: In einer Umfrage vor einem halben Jahr war in Frankreich erstmals seit den Sechzigerjahren eine knappe Mehrheit von 53 Prozent gegen die Atomkraft.

Eine starke Minderheit bleibt aber dafür, und das hat heute wohl eher "klimatische" als finanzielle Gründe: Anders als europäische Nachbarn scheint die französische Regierung unfähig, die Energiewende durchzuziehen und nachhaltigen Ersatz für die CO2-arme Kernenergie zu schaffen. Die geplanten Windkraftparks an den langen Küsten des Atlantiks und des Ärmelkanals sind bisher nicht einmal über die Projektphase hinausgekommen. "Sortir du nucléaire" (Atomausstieg) würde deshalb in Frankreich fast unweigerlich zu einer Zunahme der fossilen Energien führen. (Stefan Brändle aus Paris, 24.6.2019)