Es ist genau einen Monat her, da kamen am Abend der Europawahlen viele Regierungs- und Parteichefs in den Mitgliedstaaten, tausende Abgeordnete und Kandidaten, auch viele Medien aus dem Schwärmen kaum heraus. Von Einzelergebnissen abgesehen, bestand im Gesamtbefund kein Zweifel: Die EU-Bürger haben ein kräftiges Lebenszeichen für wachsende Demokratie und Ansprüche im gemeinsamen Europa gegeben – auch inhaltlich.

Denn in fast allen Ländern stieg die Wahlbeteiligung signifikant an, das erste Mal seit zwanzig Jahren. Entgegen den Erwartungen hielt sich der Durchmarsch der Rechtspopulisten und EU-Feinde in Grenzen (Ausnahme: Italien). Stattdessen wurde die politische Bandbreite gestärkt. Die traditionellen Volksparteien verloren. Grüne und Liberale gewannen stark dazu, mit ihnen Themen wie Klimaschutz, Rechtsstaat sowie Stärkung der Demokratie.

Aus all dem hätte man im Zuge der Konstituierung des EU-Parlaments nächste Woche und im Anschluss daran bei der Besetzung der Führungsposten in zentralen EU-Institutionen einen positiven Schub für das gemeinsame Europa ausverhandeln können: einen "Ruck" für die EU.

Bedingung dafür wäre gewesen, dass die im Parlament vertretenen Parteien und ihre Chefs zu Hause in den Nationalstaaten einen ernsthaften Versuch unternehmen, höchste Ansprüche an den Prozess zur Bildung von Koalitionen und eines Arbeitsprogramms bis 2024 zu stellen.

Postenschacherei

Aber dazu kam es leider nicht, ganz im Gegenteil. Der jüngste EU-Gipfel in Brüssel hat gezeigt, dass die Legislaturperiode mit einem schweren Rückfall in Uraltpolitik nationalstaatlicher Blindheit beginnt. Statt über gemeinsame politische Ziele, Koalitionen für unser aller Zukunft zu reden, haben die Regierungschefs sofort damit begonnen, in unterste Schubladen der Postenschacherei zu greifen.

Ausgelöst hat das Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dem es sichtlich nur um eines ging: "den Deutschen" Manfred Weber als Kandidat für die Juncker-Nachfolge zu zerstören und gleich alle anderen Spitzenkandidaten des Parlaments dazu. Das ist ein schwerer Rückfall in die Zeiten der Hinterzimmerpolitik von EU-Regierungschefs, die glauben, sie könnten sich alles ohne Transparenz ausmauscheln. Die Folgen sind Vertrauensverlust und ein Machtkampf zwischen den Regierungen und dem direkt gewählten EU-Parlament. Die großen Verlierer stehen schon fest: die Bürger, die Demokratie. Macron hat Europa beschädigt. (Thomas Mayer, 24.6.2019)