Mit dem Begriff Außenhandelspolitik verbindet man vermutlich die aktuelle Zollpolitik im Handelskonflikt der USA mit China und Schlagwörter wie Investitionsschiedsgericht und Chlorhuhn, wie zuletzt bei den gescheiterten beziehungsweise erfolgreichen Verhandlungen der bilateralen Handelsabkommen TTIP (EU, USA) und Ceta (EU, Kanada), oder auch multilaterale Bestrebungen zur Liberalisierung des Handels im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO). Weitaus weniger Beachtung erfahren im öffentlichen Diskurs die sogenannten unilateralen nichtdiskriminierenden Handelspolitiken. Diese zeichnen sich, wie ihr Name nahelegt, dadurch aus, dass ein Nationalstaat auf eigene Initiative handelserleichternde Maßnahmen umsetzt, die in ihrer Ausgestaltung nicht zwischen Handelspartnern unterscheiden, also nicht diskriminieren.

Zeit als Kostenfaktor im internationalen Handel

Beispiele für solche unilateralen nichtdiskriminierenden Maßnahmen sind Erleichterungen beziehungsweise Verbesserungen von grenzüberschreitenden Verfahren wie der Zollabfertigung, dem Terminalumschlag beziehungsweise dem Aufwand zur Dokumentenaufbereitung. Aus ökonomischer Sicht sind diese Prozeduren für Unternehmen, die internationalen Handel treiben, mit zeitlichem Aufwand und in weiterer Folge mit Kosten verbunden. So ist von den Unternehmen eingesetztes Kapital länger in Transport und Lagerung gebunden, bestimmte Güter verderben, und zusätzliche Ressourcen werden zur Ausweitung von Sicherheitsmargen aufgewendet. Vor allem im Handel mit Einzelteilen und Komponenten innerhalb von global integrierten Wertschöpfungsketten ist eine zeitgerechte und planbare Lieferung von großer Bedeutung.

Die zur Erfüllung dieser Abwicklungsverfahren notwendige Zeit stellt daher Kosten dar, die nur grenzüberschreitende Handelsaktivitäten betreffen. Nach der aktuellen ökonomischen Außenhandelstheorie führen diese höheren Handelskosten zu geringeren Handelsaktivitäten und damit zu Wohlfahrtseinbußen. Höhere Konsumentenpreise, geringere Produktvielfalt und eine niedrigere langfristige Produktivität aufgrund geringerer Wettbewerbs- und Innovationsanreize zur Effizienzsteigerung können die Folge sein. Eine Reduktion dieser Zeitkosten kann daher die Wohlfahrt steigern, ohne zahlreiche multi- oder bilaterale Verhandlungsrunden zu erfordern oder negativ besetzte Liberalisierungen, beispielsweise bei einer Angleichung der Produktionsstandards für Nahrungsmittelerzeugung, vor der Bevölkerung rechtfertigen zu müssen.

Eierlegende Wollmilchsau oder dritter Zwerg von links?

Da sich das nach der eierlegenden Wollmilchsau anhört, sollte empirisch überprüft werden, ob es sich bei der zu erwartenden Größenordnung der Wohlfahrtseffekte solcher Maßnahmen nicht auch nur um den dritten Zwerg von links handelt. In einem kürzlich erschienenen Arbeitspapier unternehmen Harald Oberhofer (WU, Wifo), Michael Pfaffermayr (Universität Innsbruck) und ich den Versuch, die Auswirkungen einer Reduktion der Zeit von solchen grenzüberschreitenden Prozeduren auf die Realeinkommen in 63 Ländern zu berechnen. Im Gegensatz zu bestehenden Studien werden dabei nicht nur die direkten Effekte, sondern auch die durch die theoretische und empirische Forschung erwarteten Handelsumlenkungseffekte berücksichtigt. Verringern sich zum Beispiel die Kosten zwischen zwei Ländern, nimmt deren bilaterales Handelsvolumen zulasten von anderen Ländern und dem Inlandshandel zu.

Zunächst schätzten wir den Effekt eines Tages Zeitaufwand für grenzüberschreitende Prozeduren auf den Außenhandel auf Basis von Daten aus dem Zeitraum 2006 bis 2012 ab. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein zusätzlicher Tag Zeitaufwand zu einer direkten Reduktion der internationalen Handelsflüsse im selben Ausmaß wie eine Erhöhung des durchschnittlichen Zollsatzes um 0,8 Prozentpunkte führt. Diese Effekthöhe ist nicht unerheblich, da beispielsweise im Jahr 2015 der durchschnittliche Zollsatz der Europäischen Union gemäß dem Meistbegünstigungsprinzip der WTO 5,1 Prozent betrug. Als grenzüberschreitende Prozeduren wurde die benötigte Zeit für Dokumentenaufbereitung, Hafenumschlag und Zollabfertigung untersucht. Die Effekte sind vor allem durch die erste Komponente, die Zeit, die für das Ansuchen und die Aufbereitung der benötigten Export- und Importdokumente aufgebracht werden muss, bestimmt.

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Handelsstreitigkeiten wie zwischen den USA und China zeigen die Schwachstellen bi- und multilateraler Handelsabkommen auf.
Foto: AP/Robert F. Bukaty

In einem nächsten Schritt verwendeten wir diese Ergebnisse, um die realen Einkommenseffekte der zwischen 2006 und 2012 realisierten Zeitreduktionen zu simulieren. Dazu gruppierten wir die Länder nach ihrem Pro-Kopf-Einkommen in einerseits Hoch- und andererseits Mittel- und Niedrigeinkommensländer. Ein Blick auf die verwendeten Daten zeigt, dass grenzüberschreitende Prozeduren zwischen Ländern mit mittlerem und geringem Einkommensniveau deutlich zeitintensiver sind, aber innerhalb des Untersuchungszeitraums auch deutlich stärker reduziert wurden. In Summe weisen diese wirtschaftlich schwächer entwickelten Länder ein um 0,7 Prozent höheres reales Einkommen auf, als es ohne die durchgeführten Handelserleichterungen der Fall gewesen wäre. Bei Hocheinkommensländern beträgt der Einkommensgewinn 0,2 Prozent.

In einem zweiten Szenario untersuchen wir die Frage, welches Potenzial durch weitere Handelserleichterungen gehoben werden könnte. Dabei werden die Wohlfahrtseffekte für den Fall simuliert, dass alle Länder den Zeitaufwand für die grenzüberschreitenden Verfahren auf das im Jahr 2012 beobachtete minimale Niveau reduzieren. Die Ergebnisse deuten hier auf erhebliche Potenziale für reale Einkommenssteigerungen für Mittel- und Niedrigeinkommensländer im Ausmaß von 3,5 Prozent und für Hocheinkommensländer von 2,2 Prozent hin.

Zeit zu handeln?

Was lässt sich aus diesen Ergebnissen ableiten? In Zeiten stagnierender multi- und bilateraler Handelsliberalisierungen sowie aufkeimender protektionistischer Tendenzen durch die US-amerikanische Zollpolitik bieten unilaterale Handelserleichterungen eine alternative handelspolitische Option zur Steigerung der Wohlfahrt. Mögliche konkretere Maßnahmen umfassen regulative und bürokratische Reformen sowie gezielte Investitionen in Digitalisierung und physische Infrastruktur. Vor allem in Mittel- und Niedrigeinkommensländern besteht noch ein hohes Potenzial, wobei die Ergebnisse unserer Untersuchungen aber keine Rückschlüsse auf die Verteilung der Wohlfahrtsgewinne innerhalb eines Landes zulassen. Daher sollten, wie auch bei anderen Handelspolitiken, begleitende Maßnahmen seitens der Staaten erfolgen, die sicherstellen, dass eine möglichst breite Bevölkerungsschicht von den positiven Wohlfahrtseffekten des Handels profitiert. (Richard Sellner, 25.6.2019)