Immer mehr wohnungs- und obdachlose Menschen sind von psychischen Erkrankungen betroffen, berichten Sozialarbeiter.

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Wien – Mit einer Jacke und sonst nichts: So ist Florian Werner* nach seiner Haftentlassung auf der Straße gestanden. Es war Winter. Als er zu seinen Eltern ging und um einen Schlafplatz für die Nacht bat, schlug ihm seine Mutter die Tür vor der Nase zu. Sein nächster Gang führte in einen Supermarkt, wo er eine Flasche Wodka kaufte.

So schildert der heute 42-jährige seine erste Nacht auf der Straße. Es sollten noch viele folgen: Zwei Jahre lang schlief er in Parks, in der Nähe von U-Bahn-Stationen oder in Stiegenhäusern. In öffentlichen Bädern hat er geduscht. Es war der Tiefpunkt in seinem Leben.

Das war vor fünf Jahren. Nun steht Werner wieder auf stabileren Beinen – auch wenn noch lange nicht alles wieder im Lot ist. Er sitzt auf einem Drehstuhl im Büro des neuen Tagestreffs der Heilsarmee, das kürzlich im zweiten Wiener Gemeindebezirk seine Pforten öffnete. An seinem Hals blitzt ein Tattoo unter dem Hemdkragen hervor, aus seiner Hosentasche baumeln weiße Kopfhörer.

Immer mehr psychisch Kranke

Die Einrichtung hat sich auf die Betreuung psychisch kranker wohnungsloser Menschen spezialisiert. Und das nicht ohne Grund: Eine Evaluierung der Wiener Wohnungslosenhilfe (VWWH) ergab bereits im Jahr 2012, dass 39 Prozent aller Befragten zum Zeitpunkt der Erhebung von psychischen Beschwerden betroffen seien. 49 Prozent sprachen davon, biografisch Probleme mit der psychischen Gesundheit zu haben. 45 Prozent berichteten von einer Suchterkrankung. In der täglichen Praxisarbeit nehme man eine weitere Steigerung der Betroffenenzahlen wahr, sagt Tagestreff-Leiter Andreas Wimmer.

Das Angebot richtet sich vorerst an Klienten des Betreuten Wohnens der Heilsarmee. Auf längere Sicht will man das Angebot aber auch für andere öffnen. Die christliche Organisation hat mehrere Wohnungen im zweiten und zwanzigsten Bezirk günstig angemietet und gibt diese per Benützungsverträge an Betroffene weiter. Diese werden zusätzlich von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern betreut.

Eigenes Zimmer, eigene Türe

Auch Werner wohnt in einer solchen Wohnung, die er sich mit einem Zweiten teilt. Er hat dort sein eigenes Zimmer, Bad und Küche werden gemeinsam benutzt. Er schätzt es "unglaublich", wieder hinter sich die Türe zumachen zu können, sagt er.

Um sich die Zeit zu vertreiben, kommt er gerne in den "Wintergarten", der nach dem Journalist Max Winter benannt wurde. Dort besucht er Workshops – denn der Elektriker ist arbeitsunfähig. Er lebt in erster Linie von seiner Invaliditätspension.

80 Millionen für Wohnungslose

"Ich habe zu viel Zeit zum Nachdenken", sagt Werner. Manchmal wird ihm alles zu viel. Er leidet an Angststörungen, Panikattacken und Klaustrophobie. Und das schon lange: "Mit 28 habe ich die Türe eines U-Bahn-Waggons mit aller Kraft aufgerissen, weil ich Panik bekommen habe", erzählt er. Trotz Arztbefunds habe er Strafe zahlen müssen. Wirklich bergab gegangen ist es aber 2007, nach seiner Scheidung. Seither hat er zu seinen drei Kindern (20, 18 und 17 Jahre alt) keinen Kontakt mehr.

Einmal pro Woche erhält Werner psychologische Betreuung im Wintergarten. Finanziert wird das Projekt vom Fonds Soziales Wien (FSW). 80 Millionen Euro sind 2018 in die Wiener Wohnungslosenhilfe geflossen, berichtet FSW-Geschäftsführerin Anita Bauer. "In puncto Entstigmatisierung haben wir noch viel zu tun", sagt Bauer: "Körperliche Erkrankungen werden gesellschaftlich viel mehr toleriert."

Einige Monate in Haft

22 Monate war Werner im Gefängnis, acht davon als Freigänger. Körperverletzung und Betrug seien die Gründe gewesen, sagt er. Es war nicht sein erster Kontakt mit der Justiz. Einmal habe eine Richterin zu ihm gesagt: "'Wenn ich Ihnen auf der Straße begegnen würde, würde ich einen weiten Bogen machen.' Das hat mich sehr getroffen", sagt er.

Wie die Zeit in Haft war? "Das weiß ich nicht, wie ich das überstanden habe", sagt der 42-Jährige, blickt zu Boden und bohrt seinen rechten Daumen in die linke Handinnenfläche. Klaustrophobisch sei er gewesen, einmal habe er um Verlegung in eine größere Zelle angesucht. Stabil war er nach der Entlassung nicht. Auf der Straße sei er dann jedem aus dem Weg gegangen.

Verzeihende Arbeit

"Wir versuchen, verzeihend zu arbeiten", sagt Tagestreff-Leiter Wimmer. Das sei im Endeffekt auch nachhaltiger. Seit eineinhalb Jahren kennt er Werner, der ihn, stets mit einem Lächeln auf den Lippen, "den strengen Herrn Wimmer" nennt.

Der Elektriker beginnt langsam, wieder eine Perspektive zu entwickeln: "Überstürzen will ich aber nix", sagt er. "Sonst geht nur wieder alles nach hinten los." (Vanessa Gaigg, 1.7.2019)