Was hat Sebastian Kurz mit Commander Shepard aus der "Mass Effect"-Computerspielreihe gemeinsam? Der eine war demokratisch legitimierter Kanzler der österreichischen Republik, der/die andere Kommandantin oder Kommandant eines irdischen Kriegsschiffes in einer fiktionalen Zukunft. Was für einen Sinn kann es machen zwei so unterschiedliche Figuren zu vergleichen? Dem österreichischen Altbundeskanzler wird gerne eine geradezu meisterhaftes Talent zur Selbstinszenierung als Opfer und Retter nachgesagt. Aber was, wenn er hier nur ein bereits erfolgreich in unserer Popkultur eingespieltes Narrativ übernimmt?

Ein Held gegen das korrupte System

"Heute hat das Parlament entschieden, aber am Ende entscheidet das Volk", kommentierte Kurz Ende Mai seinen Rücktritt als österreichischer Bundeskanzler. Viele Journalistinnen und Journalisten sowie Politikerinnen und Politiker reagierten irritiert, immerhin wird das Parlament in Wahlen vom Souverän, dem Volk, damit beauftragt, seinen Willen zu vertreten. Zugleich wurde aber diese Infragestellung der repräsentativen Demokratie von Anderen gar nicht als solche wahrgenommen. Umfragen zeigen, dass es Kurz erfolgreich gelungen war, sich und die ÖVP als Opfer einer "undemokratischen" parteipolitischen Intrige darzustellen. Wie ist es aber möglich, dass ein Teil der österreichischen Bevölkerung eher einem gestürzten Kanzler als einem gewählten Nationalrat vertraut, die eigenen Interessen zu vertreten?

Die Vorstellung, dass ein Mann – Frauen finden sich selten in dieser Rolle wieder – antritt, um alle Probleme einer Nation zu lösen und mit der Korruption und Sklerose inneffizienter politischer Systeme aufzuräumen erscheint uns gefährlich verlockend. Diese politische Idee kam allerdings nicht aus dem Nichts. Ein Teil der Erklärung findet sich in unserer Populärkultur, wo wir diese Helden seit Jahrzehnten lieben gelernt haben. So kann auch eine ideengeschichtliche Analyse des Motivs "einsamer politischer Held versus korruptes System" uns helfen, das besser zu verstehen.

Kurz gegen das korrupte System – ein Narrativ, dass wohl bis zur Wahl durchgespielt wird.
Foto: Heribert CORN/www.corn.at

Logik digitaler Spiele: Demokratische Institutionen sind "unsexy"

Wenn wir die meistverkauften Computerspiele der letzten Jahre analysieren, dann wirkt der Satz "Das Parlament hat bestimmt. Das Volk wird entscheiden!", so das Werbesujet der ÖVP, plötzlich nicht mehr wie ein Widerspruch. In Computerspielen begegnen wir nämlich im Normalfall keinem gewählten Parlament. Stattdessen lernen wir politisches Handeln fast ausnahmslos in der Figur moralisch handelnder Einzelpersonen kennen, was übrigens auch für die meisten Serien, Filme, und so fort gilt. Hier spielt natürlich die Logik digitaler Spiele (maximale Agency für die Gamer) und allgemein die Tradition des Heros in unserer Kultur eine Rolle.

Politische Kompromisse und Konsensentscheidungen haben in der schnelllebigen und ständig bedrohten Spielewelt keinen Platz. Sie sind pop-kulturell gesprochen "unsexy". Wir erwarten stattdessen von Individuen, dass sie die Welt retten: Joel in "The Last of Us", Gordon Freeman in "Half-Life", der Inquisitor in "Dragon Age: Inquisition", Iron Man, Batman, et cetera. Auch sind wir es gewohnt, dass etablierte politische Strukturen meist entweder keine Hilfe oder aber sogar hinderlich dabei sind das "Richtige" zu tun: der Council in "Mass Effect", der Umweltschutzbeauftragte (!) Walter Peck in "Ghostbusters", Senator Stern in "Iron Man".

Weiblicher und männlicher Commander Shepard.

Einsame Helden retten die Welt vor Zombiedrachen oder Aliens

Noch gewichtiger als die (vereinzelte) Diskreditierung demokratischer Institutionen ist meiner Ansicht nach aber die extreme Aufwertung des Individuums. Wir vertrauen unseren Helden, weil sie sich ihr Schicksal nie selbst ausgesucht haben, sie wurden auserwählt, oder waren einfach zum richtigen Zeitpunkt am richtigen (oder falschen) Ort. Sie trauen sich, unangenehme "Wahrheiten" auszusprechen. Sie müssen – auch wenn es persönliche Opfer bedeutet – einsame Entscheidungen für das Wohl der Gesellschaft treffen, weil es sonst niemand tut. Im Gegensatz zu demokratischen Institutionen können sie sofort und "richtig" reagieren wenn es notwendig ist. Wenn unsere Welt gerade von Zombiedrachen, massenmordenden Menschmaschinen, Bowser oder anderen Aliens bedroht wird, ist einfach keine Zeit für politische Kompromisse und komplizierte Entscheidungsfindungen.

Natürlich darf man dabei nie den "Einfluss" oder gar die "Wirkung" von Massenmedien überschätzen. Spielerinnen und Spieler sind keine unbeschriebenen Blätter, die einfach vorgezeigte politische Ideen übernehmen. Zugleich lernen wir in unserer Populärkultur aber täglich neue Vorbilder kennen, die uns zeigen, wie die Welt aussehen könnte. Wir lernen hier die Grenzen des "Sag-" und "Denkbaren": eine Welt in der moralische Heldinnen und Helden schnell und richtig handeln.

Pop-Autokraten und die Gefahren politischer Erlöserfiguren

Dabei vergessen wir gerne, wie unrealistisch es ist von einer einzelnen Person zu erwarten, dass sie alle Probleme lösen kann. Schon ein kurzer Blick auf unsere Geschichte zeigt schnell die Grenzen und Gefahren politischer Erlöserfiguren. Und doch ist es furchtbar verlockend, daran zu glauben, dass wir nur auf den oder die "Richtige" warten müssen, um alle Probleme zu lösen. Commander Shepard aus "Mass Effect" verkörpert besonders eindeutig diese Erlöserfigur. Er muss gegen den Widerstand eines skelorsierten Council und eines korrupten Botschafter unter persönlichen Opfern harte Entscheidungen treffen um unsere Welt zu retten.

Und gerade heute übernehmen viele Pop-Autokraten wie Trump, Orban und Konsorten gerne das zur Verfügung gestellte Narrativ des "einsamen Helden". Fehlt einer Partei hingegen eine solche charismatische Führungsperson, sehen wir sie automatisch in der Krise. Und dieses Krisennarrativ wird oft sogar von den betroffenen Parteien selbst übernommen. Hektisch wird dann nach einem Retter, einer Retterin gesucht.

Digitale Spiele sind hier nicht die "Verursacher" von Demokratieskepsis. Sie reproduzieren einfach eingespielte Narrative und bedienen dominante diskursive Aussagen. Oder: Was bisher funktioniert hat, wird weiter verfestigt. Die Populärkultur funktioniert hier auch als Verstärker bereits angebrochener Prozesse, solange es keine echten Gegennarrative gibt.

Und Kurz?

Kurz hat erfolgreich das kulturell eingelernte Narrativ des einsamen Helden, der als einziger weiß, was "richtig" ist, auf seine Person übertragen. Er kann darauf vertrauen, dass ein großer Teil der Bevölkerung dafür Verständnis hat, wenn er sich im Notfall auch gegen demokratische Institutionen stellen muss, weil es zu diesem Zeitpunkt "richtig" ist. Und, so absurd der Vergleich mit der Spielreihe "Mass Effect" auch im ersten Augenblick klingen mag: Am Ende bleibt "Commander Kurz von der Normandy", der vom Council zwar abgesetzt wurde und trotzdem die Welt vor einer dunklen Bedrohung retten wird. (Eugen Pfister, 1.7.2019)