Joachim Meyerhoff verlässt nach 14 Jahren Wien und das Burgtheater.

Reinhard M. Werner

Diesen Sonntag senkt sich der letzte Vorhang am Burgtheater der Ära Karin Bergmann. Zu den vielen Schauspielern, die das Haus verlassen werden – darunter Christiane von Poelnitz, Aenne Schwarz, Petra Morzé, Peter Knaack oder Fabian Krüger -, gehört auch Joachim Meyerhoff. Er zieht nach 14 Jahren in Wien im Herbst weiter an die Schaubühne Berlin. Das war nicht abzusehen.

STANDARD: Vor zehn Jahren haben Sie mir gesagt, Sie wollen "überhaupt nicht nach Berlin, Berlin bedrängt mich mit seinem Überangebot". Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?

Meyerhoff: Also die Furcht vor Berlin habe ich eigentlich immer noch. Ich bin nicht der ultimative Berlin-Fan, muss ich sagen. Die Stadt ist in ihrer Bewegtheit diametral anders als Wien. Ich fahre jetzt seit so vielen Jahren mit dem 71er zum Burgtheater herein, und entlang der gesamten Strecke hat sich gar nie etwas verändert. Dieser Raum innerhalb des Gürtels ist wie versteinert, und da habe ich manchmal das Gefühl, es verrinnt mir die Zeit zwischen den Fingern. In Berlin fühle ich mich immer aufgefordert, mich auf Veränderungen einzustellen, also die Wahrnehmung zu schärfen.

STANDARD: Ich dachte, Sie wechseln ans Schauspielhaus Hamburg, mit dem Sie eine lange Arbeitsbeziehung haben. Warum ist es die Schaubühne geworden?

Meyerhoff: Das war schon eine schwere Entscheidung. Ich kenne Hamburg aber einfach zu gut. Berlin hingegen ist Neuland für mich. Christiane von Poelnitz und unsere beiden Töchter werden in Hamburg leben. Hamburg wird also ein Ort bleiben, wo ich viel sein werde. Ich habe aber nach einer anderen Tradition gesucht. Ich wollte mal raus aus dem Prunkbau und dem Theaterplüsch hin zu einem Raum, der ein anderes Klima hat. Außerdem gefällt mir die literarische Affinität des Schaubühnenleiters Thomas Ostermeiers sehr gut, wie zum Beispiel seine Arbeiten mit Adaptionen der Romane von Didier Eribon, Édouard Louis oder Roberto Bolaño.

Joachim Meyerhoff in "Die Welt im Rücken" (2017) von Thomas Melle am Akademietheater. Die Inszenierung von Jan Bosse wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Foto: Reinhard M. Werner

STANDARD: Die Schaubühne ist ein kleineres und somit auch wendigeres Haus, an dem sich leichter ausprobieren lässt. Haben Sie den Plan, hier mehr Regie zu führen oder Soloprogramm zu machen?

Meyerhoff: Im Gegenteil. Meine Sehnsucht ist, wieder in einem Ensemble aufzugehen. Raus aus den monologartigen Gedankengebäuden, die mich die letzten Jahre beschäftigt haben. Ich habe ein Verlangen nach mehr Austausch, danach mich mit den Gedanken und Ansichten anderer zu verbinden und habe Ostermeier auch gesagt: Bitte, keine Soloprojekte mehr. Ich habe so viel alleine auf der Bühnen gestanden, ich brauche dringend wieder ein starkes Gegenüber.

STANDARD: Sie starten mit "Amphitryon" in der Regie von Herbert Fritsch. Denken nun alle, jetzt kommt der Star und spielt uns alles weg?

Meyerhoff: Ich glaube, dass das Starempfinden von außen ganz anders wahrgenommen wird. Von außen soll es die Stars geben, aber von innen stellt sich dass dann viel langweiliger und kooperativer dar. Nur in Wien war das eher aufgeladen. Es gibt nicht viele Begriffe, mit denen ich so wenig anfangen kann wie mit dem Titel: Theaterstar. Das ist ja ein Widerspruch in sich.

STANDARD: Sie sind durch Ihre autobiografischen Bücher ein arrivierter Autor geworden und hatten den Plan, auch Theaterstücke zu schreiben. Wann ist es so weit?

Meyerhoff: Das habe ich ad acta gelegt. Es fehlt mir dazu der Anlass, so wie ich ihn im Fall des Erinnerungsabends für Ignaz Kirchner gefunden hatte. Wenn ich etwas hätte, das mich wirklich umtreibt, würde ich schreiben. Aber jetzt einzusteigen in den Schreibbetrieb und nach Themen Ausschau zu halten, das will ich nicht. Ich will eher wieder zurück in ein unkomplizierteres Arbeiten als Teil eines Ensembles. Ich schätze ja am Schauspielberuf sehr, dass ich zu einer Art "Verantwortungslosigkeit" aufgerufen bin, dass ich mir eine gewisse Anarchie erhalten kann und muss, mir ein chaotisches Element bewahre. Schauspieler handeln oft viel zu verantwortungsvoll, viel zu redlich und autoritätsgläubig. Sie müssten die Dinge aber demontieren, in die sie da gesetzt werden. Das wäre doch auch für die Regisseure wichtig. Heute neigt der Betrieb dazu, dass es zu schnellen Verabredungen kommt.

Gehirn? Leber? Über-Ich? – Bühnenbild von Stétphane Laimé für "Die Welt im Rücken" (2017).
Foto: Reinhard M. Werner

STANDARD: Der Schauspieler als Unsicherheitsfaktor?

Meyerhoff: Ja, unbedingt. Es muss nicht provokant sein, diese Unberechenbarkeit kann auch ganz woanders liegen. In einer Offenheit, die ein Schauspieler ins Spiel einbringt, sodass es riskant werden kann, auch innerhalb der Genauigkeit einer Inszenierung. Mit Johann Adam Oest, mit dem ich unzählige Sturm-Aufführungen gespielt habe, ist mir das immer wieder passiert. Es muss eine Zumutung sein.

STANDARD: Für das Publikum?

Meyerhoff: Auch für die Schauspieler selber und in der Probenzeit auch für den Regisseur, finde ich. Das Verhältnis Regie und Schauspieler ist eines der ungeklärtesten im Moment. Es ist eine alte Arbeitsstruktur, die weiter zelebriert wird, und eigentlich ist das heute eine Schieflage, dass da einer sitzt und vor ihm turnen erwachsene Menschen herum. René Pollesch spricht von Kollektiven, aber auch im Kollektiv machen dann ja alle das, was seiner Arbeitsweise entspricht. Am Ende soll dann ja auch ein unverkennbarerer Pollesch herauskommen, ein unverkennbarer Thalheimer oder Fritsch. Der interessante Schritt wäre, dass der Regisseur mal gar nicht da ist und die Schauspieler machen was für sich. Ich finde das gar nicht so abwegig.

STANDARD: Aber das müsste ja erst entwickelt werden?

Meyerhoff: Ja unbedingt, Schauspieler haben da ein großes Defizit in ihrem Autonomieempfinden. Darin, dass sie sich gemeinsam ins Spiel begeben und dabei auch ihre oft völlig unterschiedlichen Lebensrealitäten abbilden. Mut zum Konflikt, zu Verschiedenheit täte uns wahrlich gut. Ich würde das gar nicht so dogmatisch als entweder oder sehen. Sondern ein, zwei Produktionen pro Spielzeit in denen man wirklich neue Arbeitsformen probiert. Die Schauspieler mal machen lässt. Die Homogenität von Aufführungen, dass sich einigen auf eine gewisse Formsprache mutete doch oft wie Nostalgie an. Man behauptete Homogenität in einer zerfallenen Welt. Man brauch aber mutige Setzungen. Anna Bergmann hat in Karlsruhe ein rein weibliches Regieteam, das ist schon mal eine Ansage. Es sollte kein Mitbestimmungstheater sein, denn da steckt ja das Subalterne noch immer drin, sondern ein Bestimmungstheater bei dem die Schauspieler in jedem einzelnen Augenblick auf der Bühne aus totaler Überzeugung handeln.

STANDARD: Wie kann man sich das Unberechenbare bewahren?

Meyerhoff: Durch Wachheit, Zorn, Fassungslosigkeit, Humor vielleicht. Oder dadurch, dass man eine Stadt verlässt. Es bleibt doch immer der Versuch, die Lust am Spiel nicht zu verlieren. Das ist die ureigentliche Profession. Spielen. Meine Töchter haben oft zu mir gesagt, wenn ich zur Vorstellung aufgebrochen bin: Spiel schön. Darum geht's. Es ist auch eher egal, ob eine Aufführung gut ist, in der man spielt, Hauptsache, man findet in den Spieltrieb hinein. Ignaz Kirchner hat auch Aufführungen, die er selber grauenhaft fand, dann sehr gerne gespielt, sagte er mir.

STANDARD: Das Theater der letzten Jahre ist nicht gerade spieltriebfördernd, sondern eher konzeptuell.

Meyerhoff: Genau, deshalb muss man sich behaupten. Auch in der in sich geschlossenen Form muss ein Schauspieler sichtbar werden, seine Autonomie bewahren können. Aber ich denke, das geht alles nebeneinander. Das Geprobte umzusetzen und es gleichzeitig in Frage zu stellen oder wenn es sein muss auch zu zerstören. Ersan Mondtags "Hass-Triptychon" beispielsweise enthält beides: ein festgefügtes Konzept und den wie eine Flipperkugel herumspringenden Schauspieler Benny Claessens, der das Projekt kommentiert und in Frage stellt. Das ist doch eigentlich auch im Ballett so oder bei Herbert Fritsch. Die Form blüht erst, wenn sich jenseits aller Vituosität ein Charakter verselbständigt. Viel zu viel Theater sieht nach Pflichterfüllung aus. Wenn ich im Publikum sitze, bin ich meist froh, oben nicht dabei zu sein. Wahrscheinlich würde ich auch bei meinen eigenen Aufführungen unten sitzen und denken: Gottseidank bin ich nicht dabei.

Joachim Meyerhoff in "Der eingebildete Kranke" (2015) am Burgtheater.
Foto: APA/Hochmuth

STANDARD: Sie vermissen das erzählerische Element am Theater, haben Sie einmal gesagt. Was meinen Sie damit?

Meyerhoff: Eine Erzählung eröffnet mir einen Spielraum, innerhalb dessen ich mich zum Dramatischen verhalten kann. Einfach gesagt: Man guckt auf die Dramatik drauf. Und dieser Zustand ist es ja, durch den viele von uns mit der Welt verbunden sind. Die Welt als eine Ansammlung von Phänomenen. Eine authentische Deckungsgleichheit mit der eigenen Existenz ist ja kaum noch möglich. Wir gucken auf die Geschichten, ringen um Empathie und gleichzeitig ist man Teil davon. Man hat einerseits mit vielen Dingen nichts mehr zu tun, ist abgekopplet und doch gravierender Teil des Problems. Diese Diskrepanz ist über Romanadaptionen gut abbildbar.

STANDARD: Es wird viel über den Dramenkanon diskutiert. Sie schreiben selber viel. Wie sehen Sie das? Sollen Stücke in Ihrer Originalität weitergepflegt werden oder sind Überschreibungen unausweichlich?

Meyerhoff: Zum Glück vertrete ich dahingehend keinerlei Ideologie. Mich interessiert jemand, der sagt, Kleist ist so fantastisch, den machen wir rein aus der Sprache heraus, genauso wie jemand, der sagt, Kleist, hm, den nehmen wir jetzt mal nur als Material. Mir liegt Ausschließlichkeit nicht, ich könnte als Schauspieler nie der Jünger einer einzigen Theaterform sein, so wie sie zum Beispiel Fritsch, Thalheimer oder Breth etabliert haben. Die Faszination für die kanonisierten Stoffe des Theaters habe ich aber sehr wohl. Die Klassiker sind ja der Hallraum der gesamten Tradition. Gerade wenn man sich davon abstoßen will, muss man das durchdrungen haben. Aber ich glaube auch, dass sich Zuseher oft nach etwas sehnen, das es nicht gibt. Und dass sie, wenn sie es tatsächlich vorgesetzt bekämen, von ihrer eigenen Sehnsucht entsetzt wären.

STANDARD: Sie haben der autobiografischen Literatur Wesentliches hinzugefügt. Sind Sie damit vorläufig fertig und haben Sie nicht auch vor, rein fiktive Belletristik zu verfassen?

Meyerhoff: Ja, darauf hätte ich Lust. Es ist allerdings ein schmaler Grat. Es hat ja lange gedauert, bis ich für die autobiografischen Romane meinen Ton gefunden hatte. Aber ob ich diesen Ton auch für etwas anderes hätte, weiß ich nicht. Man ist mit seinen Mitteln halt geschlagen, auch als Schauspieler. Vielleicht braucht es eine Metmorphose. Es gibt ja wenige, auch am Theater, die das geschafft haben. Die großen Ikonen, Stein oder Peymann, die haben sich ja auch nicht gewandelt, sondern immer weiter selbst verwaltet, bis ihre Arbeit so eine nostalgische Aura bekam, dass es schon wieder interessant wurde.

STANDARD: Sie schreiben am liebsten im hintersten Eck einer Ströck-Filiale. Wo werden Sie in Berlin schreiben? Oder ist Ihr Bekanntheitsgrad in Berlin ein anderer?

Meyerhoff: Also bitte, das ist ganz harmlos. Die Berliner achten nicht auf Bekanntheit. Die sind so selbstbewusst, da gibt sich ja jeder selbst Autogramme. Ich kann mich in Berlin überall hinsetzen und muss wohl Wochen warten, bis mal wer kommt und fragt, sind Sie nicht der...?

Joachim Meyerhoff in "Professor Bernhardi" (2011) am Burgtheater
Foto: Reinhard M. Werner

STANDARD: Als Sohn eines Psychiaters, wie würden Sie die Wiener analysieren? Was sind die Verhaltensauffälligkeiten?

Meyerhoff: Ogott, da kommt man schnell in Plattitüden. Aber auffällig ist, wie viele Überzeugungen in einem einzigen Wiener Platz haben. In der politischen Auflösung, die wir gerade erleben, haben viele den Kompass verloren. Man redet mit vorgeblich Linken und merkt, dass sie eigentlich total glücklich waren mit der Kurz-Regierung. In Deutschland ist das ganz anders. Da ist das rechte Lage außen und aggressiv aufgeladen. In Österreich ist es in der Mitte der Gesellschaft. Anders gesagt: Obwohl alles drunter und drüber geht und gerade grauenhaft ist, fühlen sich die Österreicher pudelwohl darin. Das erbärmliche Video hat ja unendliches Glück ausgelöst, auch am Theater. Es war eine theatrale Begeisterung für dieses Desaster; das hatte mit echtem Entsetzen nicht viel zu tun. Es war das pure Glück über diese Katastrophe, das begeistert mich an den Wienern. Sie sind umso glücklicher, je schlimmer es wird. Mir ist auch durch Strache klar geworden, was den Erfolg der Rechten ausmacht. Man darf sich selbst alles verzeihen. Das mögen die Leute, diese Geborgenheit für das Ressentiment. Diese Nachsicht mit den eigenen Abgründen, dass verbindet. Mal Nazi gewesen, halb so schlimm, mal angesoffen das eigene Land verhökert, kann passieren, mal dem Kind eine gescheuert, was solls. Über Kurz möchte ich nichts sagen. Seitdem ich gesehen habem wie er sich hat segnen lassen: "Wir danken Gott für diesen Mann" – bin ich sprachlos.

STANDARD: Sie leben seit 2005 in Wien. Haben Sie etwas Wienerisches angenommen?

Meyerhoff: Ich war noch nie so lange an einem Ort und habe diese Stadt wirklich lieben gelernt, oder richtiger: vom ersten Moment an geliebt. Es gibt so viele gute Orte hier. Bevor ich hierher zog, war Wien für mich eine literarisch aufgeladene Koordinate, und ich war darauf gefasst, dass mich die Realität enttäuschen würde. Das tat sie nicht. Wien hält die Literatur an allen Ecken bereit. Sie löst die Zerrissenheit ein, es ist definitiv nicht nur Folklore, die Stadt hat sich einen Wesenskern bewahrt. Natürlich ist die Gefahr, dass man durch Chinesen auf Elektrorollern überfahren wird immens, aber für mich leuchtet diese Stadt immer noch.

STANDARD: Es ist auch der Ort, wo Sie Ihre Romane begonnen haben.

Meyerhoff: Und viele für mich wichtige Theaterarbeiten. Die mich als Schauspieler jedes Mal wieder neu zusammengesetzt haben. Angefangen vom Professor Bernhardi bis zu Mea Culpa mit Schlingensief oder Robinson Crusoe, dass ich mit Ignaz Kirchner spielen durfte und natürlich Die Welt im Rücken. Das ist Theater, wie es unterschiedlicher nicht sein könnte.

STANDARD: Ein Geheimnis zum Abschluss?

Meyerhoff: Das Bühnenbild von Die Welt im Rücken, jene viel diskutierte, im Raum schwebende Assoziationsbombe (Gehirn?, Leber?, Über-Ich? etc.), ist eigentlich die Raumkapsel aus der zuvor geplanten Produktion Bouvard und Pécuchet von Flaubert. Das finde ich fantastisch: Es ist ein perfektes Gleichnis für unsere Zeit, in der das Unberechenbare zuschlägt: Ein Bühnenbild für einen Flaubert von 1870 wird zum idealen Bühnenbild einer bipolaren Odyssee von 2016.

STANDARD: Wann werden mit "Die Welt im Rücken" wieder am Akademietheater zu sehen sein?

Meyerhoff: Frühestens Ende der nächsten Spielzeit. Es soll schon eine Zäsur sein. Ich werde viele Leute hier wahnsinnig vermissen. Das Burgtheater hat die besten Abteilungen der Welt. Keine Übertreibung. Und irgendwann möchte ich auch – aber eben aus der Distanz – über die Zeit in Wien schreiben. Es waren tolle 14 Jahre. Mir platzt der Kopf vor Geschichten. Es wäre ein schöner Abenteuerroman. (Margarete Affenzeller, 29.6.2019)