Statt auf schemenhafte Gestalten blickt man in lauter individuelle Gesichter: britische Soldaten in Peter Jacksons Dokumentarfilm "They Shall Not Grow Old".


Foto: Warner

Den Stummfilm haben zeitgenössische Zuseher als verwirrendes Double der Realität empfunden. Die Verblüffung über die bewegten Bilder war zwar groß – dem Mythos zufolge ergriff das Publikum vor einer einfahrenden (Film-)Eisenbahn die Flucht -, doch Autoren wie Robert Musil betonten den Abstand zur Wirklichkeit. Musil schrieb über das "verstümmelte Wesen" des Schwarzweißfilms, der einen näher an "die Physiognomie der Dinge" heranführe als jedes andere Medium zuvor und damit auch eine Ahnung von der "Unendlichkeit" gebe.

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Wie frühes Kino tatsächlich auf die Betrachter gewirkt haben muss, ist freilich nicht mehr rekonstruierbar. Die Geschichte selbst trennt uns von dieser Erfahrung. Wir sind längst darauf konditioniert, den Stummfilm als entrückte Form wahrzunehmen, in der sich Menschen ein wenig zu hastig bewegen (was an der anderen Aufnahmegeschwindigkeit liegt). Selbst wenn es sich um keine inszenierten Bilder handelt, sondern um dokumentarische Aufnahmen des Ersten Weltkriegs – so entrückt wie die Gesichter der Soldaten scheinen uns die Gräuel in den Schützengräben selbst.

Doch nun gibt es mit Peter Jacksons They Shall Not Grow Old erstmals einen Film, der mithilfe digitaler Technologie einen veränderten Blick auf das Material aus dem Ersten Weltkrieg erlaubt. Der Regisseur von Horrorstücken wie Braindead und der Herr der Ringe-Trilogie hatte schon immer etwas von einem Alchemisten an sich, der Sehgewohnheiten umzupolen versteht. Für diesen Film, der nun passend zum 100-Jahr-Jubiläum der Vertragsunterzeichnung von Versailles ins Kino kommt, hat Jackson Archivaufnahmen aus dem Londoner Imperial War Museum nicht nur einfärben lassen, er hat sie auch in 3D transferiert und die Einzelbildrate per Computer vergrößert, damit sie einem realistischen Bewegungsrhythmus entspricht.

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Der beeindruckende Effekt ist weniger der eines immersiven Erlebens, wie es Kriegsspielfilme seit Steven Spielbergs Schule machendem Saving Private Ryan (1998) bis zu Christopher Nolans Dunkirk (2017) verfolgen. Den Zuschauer in das Dispositiv des Krieges einzubinden und ein Gewitter der Affekte loszureißen, steht zumindest nicht im Vordergrund. Jackson öffnet vielmehr ein Fenster zur Geschichte, in dem diese plötzlich zu Leben erwacht – scharf, voller ungewohnter Details und Akzente. Die Schatten, von denen die Stummfilmtheoretiker schrieben, scheint der Neuseeländer zu vertreiben.

Die Perspektive von They Shall Not Grow Old – der Titel deutet schon darauf hin – ist eng an den gemeinen britischen Soldaten angebunden. Wie der erste Abschnitt des Films über die Rekrutierung und Ausbildung der Freiwilligen darlegt, war dieser besonders jung, oft noch gar nicht volljährig. Doch nun bleiben diese Soldaten keine schemenhafte Gestalten in Grautönen mehr. Man blickt auf kindliche Gesichter mit rosa Teints, manche mit Schnauzbärten, schiefen Zähnen oder wirrem Haarschopf; Burschen, die in zu großen Stiefeln für Schlachten gedrillt wurden, von denen sie sich keine Vorstellung machen konnten. Und was vielleicht noch frappierender ist: Die Rekruten blicken auch (in die Kamera) zurück.

Menschliches herausschälen

Jackson würde "die Menschlichkeit in das alte Filmmaterial zurückfügen", schrieb der Guardian, doch eigentlich holt er das darin Verborgene hervor. Die Gemeinschaft im Ausnahmezustand, auf welche die Veteranen in den Interviews auf der Tonebene wiederholt verweisen (sie entstammen der BBC-Dokumentation The Great War), wird in den Aufnahmen aus den Schützengräben auf nie gesehene Weise plastisch. Man sieht die Soldaten jedoch weniger bei Kampfhandlungen (diese werden mit Zeichnungen ergänzt), dafür bei Vorbereitungen und im endlosen Wartemodus, einem Alltag, wo eigentlich keiner ist – und erblickt dann die verstümmelten Körper als Resultate.

Zugegeben, manches an Jacksons Ansatz erscheint wie Hochmut. Zum Beispiel ließ er einzelne Aussagen der Soldaten per Lippensynchronisation rekonstruieren. Doch wie der nachproduzierte Sound der Kanonen, Minen und des Munitionsfeuers ist auch dies Teil seiner Anstrengung, einer Menschheitserfahrung möglichst nahezurücken. In dem Inferno aus Wundbrand, Nahrungsmangel, Lausbefall, Lärm und Stacheldraht findet er Reste fast widersinnig menschlicher Momente. Wie den Soldaten, der auf einer Bierflasche Gitarre spielt. (Dominik Kamalzadeh, 28.6.2019)