Deniz Yücel nach seiner Freilassung.

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Das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts, dass Deniz Yücel ein Jahr lang zu Unrecht in Untersuchungshaft gesessen ist, ist ein schwacher Trost für den deutsch-türkischen Journalisten. Als Entschädigung erhält er umgerechnet 3.800 Euro – und das für ein ganzes verlorenes Jahr, von dem er neun Monate in Isolationshaft verbringen musste.

Dennoch ist der Richterspruch ein gutes Signal. Er zeigt, dass die Macht von Präsident Tayyip Erdoğan, der den unabhängigen Journalismus mit eiserner Faust unterdrückt, nicht grenzenlos ist. Er folgt auf die für Erdoğans AKP verpatzte Bürgermeisterwahl in Istanbul, wo der Kandidat der oppositionellen CHP im zweiten Anlauf sogar mehr Stimmen erhalten hat als bei der auf Erdoğans Betreiben aufgehobenen ersten Wahl. All das zeigt, dass die Türkei immer noch ein Rechtsstaat ist, wenn auch ein stark angeschlagener, und noch keine autoritäre Diktatur, wie es Erdoğans Kritiker behaupten.

Erdoğan unter Druck

Die vom Staatsgründer Kemal Atatürk eingesetzte säkulare Verfassung und die rechtsstaatlichen Strukturen nach dem Vorbild westlicher Staaten sind immer noch existent, auch wenn Erdoğan sie durch seinen Kampf gegen missliebige Journalisten, Richter und Politiker ständig untergräbt. Erdoğan selbst steht unter starkem Druck: Eine Wirtschaftskrise plagt das Land und führt zu Inflation und immer niedrigeren Löhnen, ausländische Investoren flüchten, und seine Umfragewerte sinken. Die Wähler vertrauen ihm nicht mehr so sehr wie früher, was sie in Istanbul eindringlich bewiesen haben. Auch die Höchstrichter zeigen mehr Selbstbewusstsein als früher, wie das Yücel-Urteil zeigt. Erdoğan kann sich nicht mehr alles erlauben.

Geht die Ära Erdoğan zu Ende? Wahrscheinlich nicht. Bis zur nächsten Präsidentschaftswahl 2023 sind es ja schließlich noch vier Jahre. Die jüngsten Entwicklungen lassen dennoch Hoffnung aufkommen – die Hoffnung auf eine demokratische Türkei. (Marcos Tsitsopoulos, 28.6.2019)